Soziologe über Stress am Arbeitsplatz: „Der Druck ist gewaltig gewachsen“
Seit Jahren werde von Arbeitnehmern immer mehr verlangt, sagt der Medizinsoziologe Johannes Siegrist. Er fordert verbindliche Regeln im Arbeitsschutz.
taz: Herr Siegrist, gibt es wirklich mehr Stress im Beruf?
Johannes Siegrist: Ja, in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren haben sich in vielen Branchen die täglichen Anforderungen verschärft. Das zeigen Längsschnittstudien, unter anderem aus Schweden.
Woran liegt es?
Durch die Globalisierung ist der Konkurrenzdruck und damit auch der Druck auf Löhne und Gehälter gewachsen. Es wird in immer schnellerem Tempo rationalisiert und restrukturiert und in den Dienstleistungen gibt es höhere Anforderungen bei der Jagd nach Kunden.
Niemand wird verschont?
Einige Bereiche des öffentlichen Dienstes ein bisschen. Aber auch da ist durch neue Managementkonzepte der Druck zum Teil gewaltig gewachsen.
69, Medizinsoziologe und Seniorprofessor für psychosoziale Arbeitsbelastungsforschung an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität. Auf ihn geht das Modell der beruflichen Gratifikationskrisen als Ursache für Krankheiten zurück.
Wie genau hängen Arbeitsstress und psychische Erkrankungen zusammen?
Es gibt in der internationalen Forschung drei anerkannte Modelle, mit denen man in Studien, die über Jahre liefen, gemessen hat, dass sich bei bestimmten Arbeitsbedingungen das Depressionsrisiko in statistisch signifikanter Weise erhöht.
Wie funktionieren die Modelle?
Das Anforderungs-Kontroll-Modell zeigt, dass in Jobs, in denen extremer Zeitdruck besteht und Menschen nicht entscheiden können, wie die Arbeit abläuft, sich das Risiko für stressbedingte Erkrankungen wie Depressionen erhöht. Das zweite Modell beschreibt berufliche Gratifikationskrisen. Arbeit ist ein Prozess von Geben und Nehmen. Wenn ich mich aber extrem verausgabe und andererseits keine angemessene Gegenleistung erhalte, in Lohn, durch Aufstiegsmöglichkeiten oder Wertschätzung, dann führt auch das zu einem höheren Risiko für stressbedingte Erkrankungen.
Und das dritte Modell?
Untersucht die Organisationsungerechtigkeit, also Mobbing, ungerechte Behandlungen oder Verfahrensweisen im Betrieb, beispielsweise wenn jemand nur durch Beziehungen weiterkommt. Wenn man von einer dieser Formen des Arbeitsstresses betroffen ist, dann ist das relative Risiko, eine Depression zu erleiden, um 40 bis 140 Prozent erhöht.
Welche Berufsgruppen trifft es am häufigsten?
Man kann allgemein sagen: Je tiefer die Qualifikation, desto häufiger sind die Belastungen. Dazu kommen spezifische Belastungen einzelner Berufsgruppen, beispielsweise in Dienstleistungen mit Kundenkontakt.
Mitarbeiter in Callcentern sind also besonders gefährdet?
Ja, aber auch Menschen in Lehrberufen oder im Gesundheitsbereich. Eine repräsentative Studie bei chirurgisch tätigen Ärzten hat gezeigt, dass 25 Prozent der KrankenhausärztInnen ausgeprägte Gratifikationskrisen erfahren.
Gewerkschaften und die Sozialminister der Länder fordern, mit verbindlichen Regeln im Arbeitsschutz gegenzusteuern. Wie sinnvoll ist das?
Ich bin generell nicht für mehr Regelungsdichte, aber in diesem Fall scheint mir das absolut angemessen. Dabei muss man sorgfältig die Erkenntnisse der Wissenschaft berücksichtigen. Wir hinken in Deutschland beim Thema psychische Belastungen am Arbeitsplatz hinterher. Dänemark, Holland, sogar Großbritannien sind da weiter. In Großbritannien werden seit Jahren die Ursachen psychischer Belastungen erfasst und große Unternehmen dazu verpflichtet, dagegen vorzugehen.
Was genau kann man tun?
Besonders gefährdete Gruppen und Berufe identifizieren und dort mit Prävention ansetzen. Aber nicht, indem man die Menschen nur abhärtet. Auch in den Betrieben muss sich etwas ändern. Beispielsweise durch Arbeitszeitverkürzung oder die Schulung von Führungskräften. Der Handlungsdruck ist enorm.
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