Schröder und Lafontaine: Deutschland gegen Menschen
Untätige Polizisten, ein menschelnder Oskar Lafontaine und ein gut gebräunter Gerhard Schröder. Am Dienstag sprachen in Göttingen zwei ehemalige Spitzenpolitiker.
GÖTTINGEN taz | Niemand ist gekommen, um gegen den Auftritt von Altbundeskanzler Gerhard Schröder zu demonstrieren, und so haben die zahlreichen Polizisten am Eingang des zentralen Hörsaalgebäudes der Göttinger Universität nichts zu tun. Im Audimax sitzen hauptsächlich Teilnehmer der Jahrestagung des „Verein für Socialpolitik“: die hatte Schröder eingeladen, um über die von ihm durchgesetzte „Agenda 2010“ zu sprechen.
Gut gebräunt, mit schwarzem Anzug und roter Krawatte, federt der Ex-Kanzler auf das Podium. Er hat „viele gute Erinnerungen“ an Göttingen, sagt er, „nicht nur welche, die mit meinem Studium hier zu tun hatten“. Die versammelten Wirtschafts und Sozialwissenschaftler lachen – so ein Schlingel, der Schröder.
Schröder sagt Sätze, die so zu erwarten waren: „Deutschland war damals wirtschaftlich verkrustet und erstarrt.“ „Die Wirtschaft war nicht wirklich wettbewerbsfähig.“ „Das Land galt als kranker Mann Europas.“
Die Agenda 2010 habe Abhilfe geschaffen. Die Arbeitsmarkt und Wirtschaftsreformen hätten den deutschen Arbeitsmarkt flexibler gemacht und so dafür gesorgt, dass auch bei schwächerem Wachstum Jobs entstanden seien. Deutschland gehe es besser. Zudem habe Deutschland – Schröder sagt Deutschland, meint offensichtlich aber sich selbst – „bewiesen, dass es Reformen durchsetzen kann“. Damit das so bleibe und noch besser werde, müssten die Reformen weiter gehen. Rente mit 67, mehr Geld für Forschung, Bildung und „Innovation“.
„Kritische Begleitkonferenz“
100 Meter weiter, in einem stickiger Seminarraum im Verfügungsgebäude der Hochschule, spricht Schröders damaliger Finanzminister Oskar Lafontaine bei einer „kritischen Begleitkonferenz“. Er hat sich Schröders Vortrag angehört und darin gleich einen „Trick“ entdeckt: In der Lobpreisung auf die „Agenda“ habe sein früherer Parteifreund nämlich den Begriff „Deutschland“ benutzt und das Wort „Menschen“ vermieden.
Ihnen aber, den Menschen, gehe es seit Inkrafttreten der Agenda-Gesetze schlechter: Die Löhne stagnierten oder seien sogar gesunken, die Renten seien längst nicht so angestiegen, wie es möglich gewesen wäre, und die sozialen Sicherungssystem seien „demoliert“ worden. 20 Prozent der Beschäftigten arbeiteten derzeit im Niedriglohnsektor, kritisiert Lafontaine. Die Ungleichheit in Deutschland nehme zu.
Mehr noch, durch das „Lohndumping“ und die Deregulierung der Finanzmärkte seien die Reformen auch für die derzeitige Euro-Krise mitverantwortlich. Reformen, die Schröder – den Namen seines Intimfeindes spricht Lafontaine kein einziges Mal aus, er sagt stattdessen „der damalige Bundeskanzler“ – übrigens nur umgesetzt und nicht erfunden habe. Denn die „Agenda“ sei ja von den Unternehmerverbänden und der Bertelsmann-Stiftung entwickelt worden, „das komplette Programm des BDI wurde da übernommen“.
Ob durch Begriffe wie „Lohnebenkosten“, „Wettbewerbsfähigkeit“ oder „Arbeitsmarkt“ – der „Mainstream“ habe damals viele „Hirne vernebelt“, davon ist Lafontaine überzeugt: die der rot-grünen Spitzenpolitiker, die ihre „Fähigkeit zur Empathie völlig verloren“ hätten. Und die der Gewerkschaftsführung: Wie sonst könne sich diese die Forderung nach einem Mindestlohn von nur 8,50 Euro auf die Fahnen schreiben?
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