Russische Anti-Putin-Aktivisten im Netz: Im Kampf gegen die Kremlbots
Seit den Wahlen in Russland protestieren sie. Auch im Netz. Eine Studentin, ein einst Apolitischer und ein Umweltaktivist erzählen, warum.
Aleksej Katin* sitzt angespannt vor seinem Laptop. Er ruft die Seite dirty.ru auf, Russlands beliebtesten Gemeinschaftsblog. Mehr als drei neue Beiträge zum Fälschungsvorwurf der Parlamentswahlen kann er nicht lesen. Die Wut kocht in ihm hoch, er springt auf, vergisst sogar sein Handy und fährt auf den Bolotnaja-Platz im Herzen Moskaus.
Es ist der 10. Dezember, sechs Tage nach den Parlamentswahlen, nach Schätzungen der Veranstalter versammelten sich auf dem Platz mit Aleksej über 100.000 Menschen, um gegen das Wahlergebnis zu demonstrieren.
Bis zu diesem Tag war Aleksej weder politisch aktiv noch interessiert. Er ist 30 Jahre alt, Abteilungsleiter bei einem Rüstungs- und Straßenbauunternehmen. Doch seit dem Skandal um die Wahlfälschung hat er aufgehört, den etablierten Massenmedien zu vertrauen.
So wie Aleksej geht es vielen Russen: Auf das Internet, das bis vor Kurzem noch als Spielzeug der Stadtjugend galt, und die dort veröffentlichten Informationen verlassen sich inzwischen auch immer mehr Offliner.
"Im russischen Internet herrscht Meinungsfreiheit"
"Als Putin 1999 an die Macht kam, war das wie eine frische Brise für uns", sagt Aleksej. "Er brachte die Wirtschaft auf Trab und rechnete ab mit der gewohnten Ineffizienz in unserem Land. Als Chodorkovsky 2003 verhaftet und verurteilt wurde, begann sich plötzlich alles zu ändern." Aleksej sieht das alles als Pakt: Das System Putin tauscht demokratische Freiheiten gegen materielles Wohlergehen.
"Dieser Pakt hätte noch weiter halten können, hätte die Partei Putins sich nicht diesen Wahlbetrug geleistet", sagt Alexej. Und für die Betrugsvorwürfe hat er auch Belege aus seinem persönlichen Umfeld: "Einer meiner Mitarbeiter hat mit eigenen Augen gesehen, wie bereits ausgefüllte Stimmzettel in die Wahlurne geschoben wurden."
Auf der ersten Demonstration seines Lebens hielt Aleksej sich fern von jenen, die er verächtlich "Berufsoppositionelle" nennt. Er demonstriere nicht gegen Putin, sondern gegen die Gesetzlosigkeit. "Im russischen Internet herrscht Meinungsfreiheit", sagt er. Trotzdem möchte er seinen echten Namen in Verbindung mit den Demonstrationen nicht in der Zeitung lesen. "In einer Fernsehübertragung hat Putin kürzlich alle Demonstranten ziemlich heftig beschimpft", sagt er. "Man weiß nicht, was man nun zu erwarten hat."
Kreml-Trolling
Tatsächlich wird das Internet in Russland weder überwacht noch zensiert - anders als die klassischen Massenmedien. Schnell formierte sich über Facebook und vKontakte, dem erfolgreichsten Sozialen Netzwerk Russlands, eine digitale Bewegung gegen das Wahlergebnis.
Doch diese gerät nun unter Druck: Gemeinschaftliche Blogs, der Nachrichtendienst Twitter und die populäre russische Internetplattform Livejournal sehen sich immer häufiger mit sogenanntem "Trolling" konfrontiert. Kremltreue Onlinenutzer beschimpfen jene wüst, die sich kritisch über das Vorgehen der Partei "Einiges Russland" äußern, überziehen oppositionelle Internetplattformen und Blogs mit Spam.
Auf einigen Webseiten, die sich kritischen Äußerungen zur Parlamentswahl verweigerten, wollen Aktivisten Arbeitsangebote gefunden haben, die Willige dafür bezahlen wollen, in sozialen Netzwerken und Internetplattformen Stimmung gegen die Protestbewegung zu machen.
Doch die Protestbewegung schlägt im Krieg um die öffentliche Meinung zurück: Die Provokateure, von der Bewegung "Kremlbots" genannt, werden aus Internetgemeinschaften ausgeschlossen, mehrere Amateurvideos, die Fälle von Wahlfälschung dokumentieren, wurden auf Youtube über 2 Millionen Mal aufgerufen, auf Facebook und vKontakte wurden Protestseiten mit Titeln wie "Wir waren auf dem Bolotnaja-Platz und kommen wieder" gepostet.
Allein bei Facebook, dem in Russland weniger populären Netzwerk, haben sich bereits über 29.000 Teilnehmer für die nächste Demonstration am 24. Dezember angekündigt. Über Twitter werden Protestaufrufe und während der Demonstrationen Informationen über Polizeigewalt verbreitet.
Sanktionen kaum möglich
All das erinnert an die Proteste in Syrien, Ägypten und Tunesien, wo sich Demonstranten ganz ähnlich über Twitter und soziale Netzwerke mobilisierten. Aber anders als im Arabischen Frühling müssen sich in Russland alle, die sich im Netz gegen die Regierung aussprechen, nicht vor Festnahmen fürchten.
"Ich habe im Internet keine Angst, meine Meinung zu sagen, weil es inzwischen unglaublich viele Menschen tun. Um das zu sanktionieren, müsste man wahrscheinlich die Hälfte der Bewohner Moskaus verhaften", sagt Julja Archipova. Nachdem sie bei Twitter zur Beteiligung an einer Demonstration aufgerufen hatte, wurde auf ihrem Profil gepostet, dass sie dafür von den Amerikanern bezahlt worden sei. "Das ist natürlich Quatsch", sagt die 18-Jährige.
Die Wirtschaftsstudentin war schon bei der ersten Großdemonstration am 5. Dezember auf dem Platz vor dem Moskauer Stadtpark Tschistyje Prudy dabei. Hunderte Menschen wurden vor ihren Augen festgenommen. Sie entkam - und hatte so nur die Auseinandersetzung mit ihrer Mutter zu fürchten.
"Inzwischen hat meine Mutter verstanden, dass ich das nicht tue, um mich zu amüsieren, sondern für meine Zukunft, für sie, für mich und für alle", sagt Julja. Wie ihrer Mutter geht es in Russland vielen: In den fünf Tagen zwischen den zwei größten Moskauer Demonstrationen ist die öffentliche Unterstützung für das Anliegen der Protestler immens gewachsen. Vor der jüngsten Großdemo am 10. Dezember schickte Juljas Mutter ihr eine SMS: "Kind, eure Bewegung hat ein neues Symbol! Steck dir schnell ein weißes Band an."
An diesem Tag auf der Straße hatte Julja weniger Angst, sagt sie. Was sie im Netz gelesen hatte, deutete darauf hin, dass gewaltsame Übergriffe der Polizei unwahrscheinlich wären - zu groß die Menge der Protestierenden. Sie hatte sich nicht getäuscht.
Selbsorganisation
Als Kind des Wirtschaftsaufschwungs der Neunziger möchte Julja mehr als materiellen Wohlstand. "Ich werde nicht aufhören zu protestieren, bis ich das Recht auf faire Wahlen bekomme. Die jungen Menschen in meinem Alter wollen entweder Russland verlassen oder für die Demokratie kämpfen. Ich habe Letzteres gewählt."
Genau wie Andrej Jvirblis. Der 26-jährige Umweltaktivist hatte über Facebook von den nichtgenehmigten Demonstrationen am 5. und 6. Dezember gehört. Er war gespannt, wen er dort antreffen würde, sagt Andrej, denn er ahnte, dass diesmal nicht die "üblichen Verdächtigen" kommen würden. "Ich war positiv überrascht. Die Menschen, die gekommen waren, würden sonst nie auf die Straße gehen. Es sind die Jungen, die Gebildeten, die Erwerbstätigen."
Als die Menge so weit angeschwollen war, dass Andrej aufgab die Demonstranten zu zählen, begannen die plötzlich unterschiedliche Parolen zu skandieren. Manche riefen: "Revolution!", andere riefen ebenso laut: "Konstitution!".
"Ich selbst habe 'Konstitution!' gerufen. Aber vielleicht ist eine echte konstitutionelle Demokratie nur durch Revolution zu erreichen", sagt Andrej. Die Leute, die dort gemeinsam protestieren würden, hätten keine gemeinsame Forderung, fügt er hinzu. "Dennoch habe ich den Eindruck, dass sich die Zivilgesellschaft zum ersten Mal, seit ich denken kann, selbst organisiert."
In Sozialen Netzwerken wird für die nächste Großdemo am 24. Dezember die Versorgung der Protestierenden mit Lebensmitteln geplant. Selbsternannte Organisationskomitees drucken Flyer und verteilen weiße Bänder. Andrej vermutet, dass der Aufruhr zwischen den Jahren etwas abflauen wird. "Trotzdem sage ich der Bewegung eine Lebensdauer bis März voraus. Bis dahin hat sie sicher schon etwas erreicht."
* Name geändert
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