Repression in Russland: Bürger, seid nicht spontan!
Die Mächtigen Russlands reagieren gereizt auf Proteste. Regierungstreue Parlamentarier wollen ein Gesetz durchdrücken, das selbst organisierte Aktionen erschwert.
MOSKAU taz | Bereits einen Tag, nachdem eine riesige Flutwelle über die Stadt Krymsk im Nordkaukasus hinwegfegt war, trafen Hunderte von freiwilligen Helfern ein. Sie kamen aus allen Himmelsrichtungen und Altersgruppen, und sie waren voller Enthusiasmus.
Mehr als 170 Opfer hatte die Katastrophe Anfang Juli zwischen Schwarzem Meer und dem kaukasischen Gebirgskamm nach offiziellen Angaben gefordert. In den größeren russischen Städten sammelten die Bürger Spenden und schickten sie auf eigene Kosten ins Krisengebiet.
Nicht zum ersten Mal bewiesen die Menschen Solidarität miteinander. Auch als im Sommer 2010 Russlands Wälder wochenlang in Flammen standen, waren es die Bürger, die sich spontan organisierten. „Wenn die Gesellschaft begreift, dass der Staat nicht in der Lage ist zu helfen, hilft die Gesellschaft sich selbst“, meinten die Aktivisten der freiwilligen Feuerwehr damals.
Viele Bewohner Russlands unterstützen die neuen Gesetze laut einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Zentrums: 62 Prozent befürworten eine Regulierung des Internets, 58 Prozent die Wiedereinführung des Verleumdungsparagrafen, 45 Prozent die verschärfte Kontrolle der NGOs. 55 Prozent schätzen die Arbeit von NGOs mit ausländischer Förderung als positiv für die Bürgerrechte und die zivilgesellschaftliche Entwicklung ein. 60 Prozent sind für die Kontrolle von NGOs durch den Staat, 40 Prozent für deren Registrierung als „ausländische Agenten“.
In Krymsk versagte der Staat ebenfalls erst einmal wieder: Statt über das schnelle und kostenlose Engagement der Bürger dankbar zu sein, reagierten die Bürokraten in Krymsk ablehnend. Je mehr Freiwillige eintrafen, desto misstrauischer wurde die Verwaltung. Sie wollte die Fremden so schnell wie möglich wieder loswerden.
Tief verwurzelte Furcht vor dem Volk
Dahinter steckt eine tief verwurzelte Furcht der Beamten vor dem Volk: „Niemand glaubte, dass die Helfer ohne politischen Auftrag vor Ort seien und auf eigene Kosten arbeiteten“, meinte ein Freiwilliger. Die Bürokratie sieht in den freiwilligen Einsätzen eine Kampfansage unzufriedener Bürger.
Denn wo sich die Menschen einbringen, hat der Staat nicht nur versagt, sondern die offiziöse Propagandamaschine wird durch die Erzählungen der Aktivisten vor Ort auch widerlegt. Die Freiwilligen sind aus der Sicht der herrschenden Schicht potenzielle Demonstranten von morgen.
Regierungstreue Abgeordnete im Parlament reagierten sofort. Sie initiierten ein Gesetzesprojekt, das die freiwillige Arbeit demnächst gesetzlich reglementiert. Im Herbst soll die Duma die Paragrafen verabschieden. „Wenn sich bisher ein Freiwilliger ins Auto setzte und nach einem vermissten Kind im Wald suchte, muss er nun erst mit Bürokraten verhandeln und Papiere ausfüllen“, meint Maria Baronowa, die die Hilfe in Krymsk mitorganisierte. Ihre Sorge: Die Leute würden sich einfach nicht mehr engagieren, wenn der Kontakt mit Regierungsvertretern und Bürokraten vorgeschaltet würde.
Ursprünglich sollte das Gesetz, an dem seit Jahren gearbeitet wird, die rechtliche Stellung und Absicherung eines Freiwilligen stärken. Die autoritäre Zuspitzung in der dritten Amtsperiode Wladimir Putins verkehrt das Projekt ins genaue Gegenteil: Seit der Präsident im Mai in den Kreml zurückkehrte, ist die Atmosphäre in Russland noch ungemütlicher geworden.
Zivilgesellschaft soll im Keim erstickt werden
Putins Entourage erlässt ein Gesetz nach dem andern gegen das eigene Volk. Die erwachende Zivilgesellschaft soll im Keim erstickt werden. Die politische Elite war nach der Wiederwahl des Chefs im März davon ausgegangen, dass die Proteste verebben würden.
Stattdessen nahm der Unmut noch zu. Hunderttausend gingen im Mai und im Juni auf die Straße. Im Eilverfahren peitschte die Kremladministration ein verschärftes Versammlungsrecht durch die Duma, das das Demonstrieren von vornherein unterbinden möchte, wobei die Bußgelder erheblich angehoben wurden.
Juristische Personen können mit bis zu 38.000 Euro belangt werden, Private kommen mit einigen Monatsgehältern bis maximal 7.600 Euro davon. Alles wird unter Strafe gestellt, auch wenn mehr Menschen teilnehmen als von den Organisatoren vorher angegeben.
Beunruhigt sind Beobachter jedoch besonders wegen einer Neuerung: Kommt es zu Verstößen gegen das Versammlungsrecht, sind nicht die Veranstalter zunächst die Ansprechpartner. Ein Gericht entscheidet, wer schuldig ist. Das öffnet der Willkür Tür und Tor: Die Behörden können gezielt bekannte Oppositionelle herausgreifen und mundtot machen. Selbst die systemkonforme Opposition in der Duma nannte das Gesetz „barbarisch“ und verweigerte die Zustimmung.
Bungeespringern droht Zwangsarbeit
Die überstürzte Initiative treibt inzwischen schon kuriose Blüten. In der Provinz erhielten Bungeespringer, die von einem Hochhaus gesprungen waren, eine Vorladung des Gerichts. Nicht jedoch, weil sie ihr Leben gefährdeten, sondern weil das Training öffentlich stattfand und nicht genehmigt war. Der Polizist sprach von der „Organisation einer Massenveranstaltung ohne Anmeldung bei der Stadtverwaltung“. Den Bungeespringern droht Zwangsarbeit oder eine Geldstrafe bis 500 Euro.
Auch in Sankt Petersburg gab es die ersten Opfer. Als sich auf dem Marsfeld der Stadt 200 Menschen zur traditionellen jährlichen Kissenschlacht trafen, nahmen die Ordnungshüter zehn Teilnehmer fest. Auch sie werden zu einer Geldstrafe verurteilt. Denn das neue Gesetz macht die „gleichzeitige und massenhafte Anwesenheit oder Bewegung von Bürgern“ in der Öffentlichkeit meldepflichtig.
Den Bürgern soll die Lust an spontanen Aktionen genommen werden. Selbst Besucher einer Moschee, die wegen Platzmangels vor dem Gotteshaus beteten, wurden in Wladiwostok verwarnt. Demnächst dürften auch Familienfeierlichkeiten, an denen mehr als drei Leute teilnehmen, genehmigungspflichtig werden, ulkte ein Beobachter.
Der Spott verrät: Trotz der repressiven Schnellgesetze haben die Menschen weniger Angst. Die herrschende Schicht besitzt kaum noch Autorität. Je mehr sie versucht das durch autoritäre Verschärfungen wettzumachen, desto mehr gibt sie sich der Lächerlichkeit preis. Lacht Russland erst einmal über den Zaren, sind dessen Tage gezählt.
Fundamente der russischen Staatlichkeit bedroht
Daran dürfte auch die jüngste Maßnahme nichts ändern, die nichtstaatlichen Organisationen (NGO) vorschreibt, sich als „ausländische Agenten“ neu registrieren zu lassen, wenn sie von ausländischen Geldgebern unterstützt werden.
NGOs sind dem Kreml schon lange ein Dorn im Auge. Exgeheimdienstler Wladimir Putin hält die Organisationen für eine Fünfte Kolonne, die im Auftrag eines imaginären Westens an den Fundamenten der russischen Staatlichkeit sägt. Schon 2006 veranlasste er daher eine Novellierung des NGO-Gesetzes, das die Auflagen verschärfte. Justizministerium und Finanzamt hatten vorher schon einen klaren Einblick in Arbeit und Finanzen der Initiativen.
Auch dieses Gesetz wurde übereilig durchgedrückt. Eigentlich richtet es sich gegen Organisationen wie die Wahlbeobachter von „Golos“, die die Einhaltung de russischen Wahlgesetze überwachen. Die Initiative hatte während der Dumawahlen im Dezember das Monitoring von Wahlmanipulationen koordiniert und online publiziert. Der Betrug der Kremlpartei löste im Dezember die Unruhen aus.
In diese „Giftkategorie“ gehört auch Transparency International (TI). Die Antikorruptionsinstanz stört die Kremlkamarilla beim Ausplündern des Landes. Die Kriegserklärung an diese Organisationen dient eigenen Interessen: Erhalt der Macht und des Zugangs zu den Quellen der Bereicherung. Betroffen sind aber auch Gruppen, die soziale Aufgaben wahrnehmen, die der Staat nicht leisten will oder kann.
Sowjetische Diffamierungsformel soll Bürger abschrecken
Wladimir Putin ist noch dem Denken des Homo sovieticus verhaftet, für den ein „ausländischer Agent“ auch nur ein Synonym für „Spion“ ist. Mit dem Rückgriff auf die sowjetische Diffamierungsformel setzt der Kreml darauf, dass Bürger vor Kontakt mit unabhängigen Organisationen zurückschrecken.
Bislang haben sich die bekannteren NGOs und Menschenrechtsorganisationen nicht aus der Ruhe bringen lassen. Noch hat sich keine NGO freiwillig die Zuschreibung „Agent“ zugelegt, und auch staatlichen Kontrolleure sind noch nicht unterwegs.
Ludmila Alexejewa, die Grande Dame der russischen Menschenrechtsszene und Vorsitzende der Moskauer Helsinki-Gruppe, lässt schon jetzt keinen Zweifel daran, dass sie sich verweigern wird: „Wir werden uns unter keinen Umständen als ausländischer Agent registrieren lassen, weil wir keiner sind.“
Sie werde bis zum Ende kämpfen, sagte die 85-Jährige. Auch Jelena Panfilowa von TI in Moskau will der Anordnung nicht folgen. Sie bedauert vor allem, dass Russland durch diese Maßnahme wieder „dastehe wie ein mittelalterlicher Idiot“.
Wechselspiel aus Protest und Repression
In der politischen Klasse wächst die Furcht vor einem Umsturz. Davon zeugt auch ein Gesetz, das die Behörden veranlasst, eine „schwarze Liste“ aller Webseiten zu erstellen, die Drogenkonsum, Pornografie oder extremistische Ideen verbreiten. Hinter der Absicht, Kinder vor schädlichen Inhalten zu schützen, lauere die Gefahr politischer Zensur, glauben Oppositionelle.
Zumal das Gesetz bewusst offen lässt, was „schädlich“ heißt. Das Wirtschaftsblatt Wedomosti analysierte diese Woche unterdessen, wohin Wechselspiele aus Protest und Repression autoritäre Regime führen können. Der historische Rundblick belegt zumindest eins: Unabhängig vom Protest lässt sich eine einmal in Gang gesetzte Repressionsmaschine nicht mehr aufhalten. Aus russischer Perspektive führten die Autoren noch eine Gewissheit an: Opfer der Repression werden am Ende jene sein, die sie in Gang setzten.
Vielen geht es so wie dem russischen Schriftsteller Wiktor Jerofejew: „Ich träume von einer Revolution, aber ich wünsche sie mir nicht.“
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