Regisseur Klaus Stern über Größenwahn: „Aufstehen und weitermachen“
Die Doku „Versicherungsvertreter“ zeigt eindrucksvoll den Aufstieg und Fall des Maklers Mehmet E. Göker. Regisseur Klaus Stern über große Träume in Hessen.
taz: Herr Stern, beherrschendes Thema Ihrer Dokumentarfilme ist Größenwahn. Warum?
Klaus Stern: Weil Geschichten von Aufstieg und Fall doch die spannendsten sind – vorausgesetzt natürlich, die Leute bleiben nicht am Boden liegen und bemitleiden sich selbst, sondern stehen wieder auf und machen weiter. Das verbindet meine Protagonisten, dafür mag ich sie.
Die meisten dieser Geschichten sind in Ihrer nordhessischen Heimat angesiedelt. Welche Rolle spielt die Provinz?
Dass man solche Karrieren dort am wenigsten erwarten würde. Denn Nordhessen war – und ist immer noch – eine wirtschaftlich nicht gerade prosperierende Gegend, etwas abgehängt, ehemaliges Zonenrandgebiet. Da hat man keine großen Träume, bleibt schön auf dem Boden. Auch ich bin zur Bescheidenheit erzogen worden. Nach meiner Ausbildung als Briefträger bei der Deutschen Bundespost hätte ich eigentlich als Nebenerwerbslandwirt den Bauernhof meiner Eltern in der schönen Schwalm weiterführen sollen. Das geflügelte Wort bei uns in der Schwalm war: „Bleib doch mit dem Arsch daheem.“
Wie ist Ihnen der Protagonist von „Versicherungsvertreter“, Mehmet E. Göker, aufgefallen?
Ein Freund von mir, der damals im Gloria Kino in Kassel gearbeitet hat, hat mich auf ihn aufmerksam gemacht. Er musste Würstchen grillen, als Gökers Versicherungsvertrieb MEG dort in der Halbzeitpause eines WM-Spiels 2006 seinen Firmenaward verlieh. Es war eine Folter für meinen Freund, aber auch total spannend. Am Tag darauf rief er mich ganz atemlos an und sagte, er hätte den nächsten Film für mich.
Wenn Göker seine besten Verkäufer auszeichnete, kniete er vor diesen nieder und fragte sie, ob sie bereit seien, mit ihm Blut, Herz und Seele für die Firma zu teilen. Zur Belohnung für ihr Jawort gab’s einen MEG-Ring. In Ihrem Film zeigen Sie Ausschnitte aus Firmenvideos, bei denen dem Zuschauer die Spucke wegbleibt: Man ist hin- und hergerissen zwischen Brechreiz und Faszination.
Sie waren fasziniert, das ist schon mal gut.
Das ist Ihre Gabe, die Verführungskräfte Ihrer Protagonisten sichtbar zu machen, ohne sich mit ihnen zu verbrüdern oder sie zu verteufeln.
Deswegen gibt es Leute in Kassel, die der Meinung waren, ich würde Göker, der heute mit 21 Millionen Euro Schulden in der Türkei lebt, zu nett anpacken, weil bei mir im Film die durchaus rührende Geschichte seines Aufwachsens erzählt wird und er dadurch Pluspunkte sammelt.
Was hat Sie als Filmemacher an Göker gereizt?
Sein Ehrgeiz, dieses überbordende Selbstbewusstsein und seine Chuzpe: Er hatte in Kassel überall Plakate mit Sprüchen von sich plakatiert, etwa „Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum“. Würde aber nicht wetten, ob der wirklich von ihm stammt.
Der Mann: geboren 1968 in Ziegenhain, gelernter Briefträger, Studium der Wirtschaft in Kassel, wo er lebt, HR-Autor. 1998 Diplomarbeit über die Entführung des Politikers Peter Lorenz durch die Bewegung „2. Juni“ – auch Thema seines ersten Dokfilms „Der Austausch“ (2000). Es folgten u. a. „Weltmarktführer“ (2004) und „Henners Traum“ (2008), beide Grimme-Preis-prämiert.
Der aktuelle Film: „Versicherungsvertreter“ (2012, läuft am Montag, den 4. Juni um 22.45 Uhr in der ARD) erzählt die Geschichte des gelernten Versicherungskaufmanns Mehmet Göker und dessen „erstaunlicher Karriere“ (Untertitel). Mit seiner MEG AG verkaufte er im großen Stil Versicherungen per Telefon und kassierte dafür üppige Provisionen – bis zur großen Pleite 2009. Heute macht Göker von der Türkei aus in Lebensversicherungen – mit einer Firma seiner Mutter.
Der nächste Film: „Spielerberater“ über den Sportagenten Jörg Neblung, der bis zu dessen Tod den Fußballer Robert Enke vertrat und heute 30 Spieler unter Vertrag hat, darunter Timo Hildebrandt, läuft am 19. Juni um 0 Uhr im Ersten.
Aber ein exzentrischer Typ allein macht doch noch keinen Stern-Film.
Der Exzentriker muss natürlich auch für ein System stehen, das mich interessiert. Es war mir wichtig zu erzählen, dass dieser Mehmet E. Göker in ein System eingebettet war, das seine Arbeit komplett tolerierte und mit satten Provisionen von bis zu 8.000 Euro pro Vertragsabschluss honorierte, dass er von seinen Mitarbeitern wie den Versicherungen gleichermaßen gefeiert wurde. Ermöglicht haben das die deutschen privaten Krankenversicherungen wie AXA, Hallesche, Allianz oder Inter mit ihren irrwitzigen Provisionsmodellen. 1990 hatte ich zwei Tage an einem Rekrutierungsseminar der Continentalen im Sauerland teilgenommen. Eine Zivikollege hatte mich mitgeschleppt. Das war vergleichbar mit der Arbeitsweise der späteren MEG. Eine tolle Recherche – wie ich im Nachhinein festgestellt habe.
So viel „Naivität und Gier“ hätten Sie noch nie in einem Raum gesehen, sagten Sie später.
Nun ja, von denen hat wohl keiner annähernd so viel Geld gescheffelt wie einige Führungskräfte bei der MEG. Göker hat Handyverkäufern, die niemals die Ausbildung zum Versicherungskaufmann gepackt hätten, die eine große Chance ihres Lebens gegeben. Viele davon sind Göker heute noch dankbar. Genauso viele mussten aber Privatinsolvenz anmelden. „Mehmet E. Göker – der Film“ – eine Fanseite von ihm – hat 1.148 Likes bei Facebook. Mein Film nur 392.
Trotz Verdachts der Untreue und Insolvenzverschleppung sowie seiner hohen Schulden ist Göker bis heute auf freiem Fuß, musste noch nicht mal Privatinsolvenz anmelden. Wie kann das sein?
Erstaunlich, oder? Mehmet E. Göker könnte sicher noch mehr über private Krankenversicherungen in Deutschland erzählen.
Kurz vor der Urteilsverkündung des Kölner Landgerichts hat die Versicherung Alte Leipziger vorige Woche Ihre Klage gegen Sie zurückgezogen. Sie wollte verhindern, dass Sie Bilder vom Vorstandsmitglied Frank Kettnaker bei einer MEG-Jubelveranstaltung zeigen. Sind Sie zufrieden?
Schön zu sehen, das man mit viel Geld und Rechtsanwälten doch nicht so einfach Wahrheiten unterdrücken kann.
Waren Sie überrascht über diesen Versuch, Ihre Arbeit zu behindern?
Überrascht nicht, eher erstaunt darüber, wie Kettnaker offenbar komplett ausgeblendet hatte, dass sein Konzern Göker seit 2003 erst aufgebaut hatte. Dabei gibt es genügend Film- und Fotodokumente, die das zeigen. Zuerst hatte ich gar die fragliche Szene aus dem Film genommen – ohne eine Unterlassungserklärung zu unterschreiben –, weil die Alte Leipziger begann, Aufführungskinos rechtliche Schritte anzudrohen. Mit diesem Risiko hätte kein Kino meinen Film gespielt.
Auch in der auf 45 Minuten gekürzten TV-Fassung fehlt der Ausschnitt. Was noch?
Einige Nebenaspekte, der ehemalige Mitarbeiter, der sein MEG-Tattoo loswerden will, den Händler, der Göker die Firmenferraris verkauft hat, musste ich kürzen und auch, dass in Gökers Büro riesige Porträts von Mahatma Gandhi, Richard Branson und seinem Vater hängen, ist leider nicht drin.
Hat diese Konzentration auch Vorteile?
Nicht wirklich. Ich mache kein Hehl daraus, dass ich lieber die Langversion im Fernsehen gesehen hätte, aber ich hatte nun mal einen Vertrag über einen 45-Minüter – der übrigens so früh läuft wie keiner meiner Filme seit 1999, schon um 22.45 Uhr. Das ist der beste Dokusendeplatz, den das Erste zur Verfügung stellt.
Ein Skandal, dass es Dokumentarisches im Fernsehen so schwer hat?
Ich fordere gern und folgenlos immer wieder einen wöchentlichen festen Platz für einen langen Dokumentarfilm im Ersten. Ich glaube, das fordert auch Kulturstaatsminister Bernd Neumann. Meinetwegen auch um 0.30 Uhr. Immerhin hat die ARD es akzeptiert, meinen kommentarlosen Film auf dem 22.45-Uhr-Platz zu zeigen.
Sie haben nie eine Filmhochschule besucht, Ihre Karriere als Autor für die Jugendsendung „Live aus dem Alabama“/„Live aus dem Schlachthof“ begonnen …
… und war deswegen enttäuscht, wie routiniert und abgeklärt die früheren Moderatoren Günther Jauch, Sandra Maischberger, Giovanni di Lorenzo und Amelie Fried dieses Kapitel neulich im gemeinsamen SZ-Interview abgehandelt haben. Das war meine Schule.
Apropos Schule: Stimmt es, dass Ihr Berufsschullehrer Sie letzlich zum Fernsehen gebracht hat?
Indirekt ja. Er hat mich gefragt, ob ich wirklich Briefträger werden will. Offenbar hat er mein Potenzial gesehen. Schluckebier hieß der und war – jetzt kommt’s, kein Witz – wohl größenwahnsinnig. Lehrer sein war ihm zu wenig. Der hatte irgendwann mehrere Geschäfte: einen Fahrradladen, ein Möbelhaus, eine Fortbildungsfirma. Der hat sich total übernommen und soll später eine Wahnsinnspleite hingelegt haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Jahresrückblick Erderhitzung
Das Klima-Jahr in zehn Punkten
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos