Olympiasport Synchronschwimmen: Clowns mit Riesenlungen
Albern oder hohe Kunst? Synchronschwimmen ist Theater und Ausdauersport zugleich. Eine Australierin machte Wasserballett salonfähig. Dafür kam sie ins Gefängnis.
LONDON taz | Bühne frei! Das Schwimmbad wird zum Varieté-Theater. Schrauben, Hebeübungen und Salti. Ganz viel Bein, gestreckt und abgekickt. Showmusik. Eine Hommage an Michael Jackson, Tango, AC/DC. Junge Frauen in knappen Trikotagen. Ganz viel Strass und noch mehr Schminke. Es ist Showtime im Aquatic Centre.
Ganz große Geschichten werden erzählt im Chlordunst des olympischen Schwimmbads. Schwäne, die sich einen neuen Teich erobern müssen, Wölfe, denen auf der Jagd zum Heulen ist, weil sie lange keine Beute finden, ein Tiger, der durch den Dschungel streift und Angst und Schrecken verbreitet. Zwei Aufziehpuppen, deren Arme und Beine hin und her fliegen – aber wer zieht sie wieder auf, wenn die Bewegungen langsamer werden? Akrobatik, die Geschichten erzählen will.
Die Zuschauer sehen die Unterschiede. Das italienische Drama verstehen sie nicht oder wollen sie sich von der traurigen Geschichte ihre olympische Partystimmung nicht vermiesen lassen? Die kanadische Clownnummer finden sie witzig. Sie lachen. Doch auf den Applaus sind die Varietékünstlerinnen nicht aus in diesem Theater, das nach Chlor riecht. Er ist ihnen ohnehin gewiss. Sie wollen gute Noten von den Kampfrichterinnen. Dieses aufgesetzte Lächeln, diese übertriebenen Gesten, muss das sein? Ist das gutes Theater.
„Eine alte Geschichte“, sagt Natalja Ischtschenko. Nach der Show, die ihr zusammen mit ihrer Partnerin Swetlana Romaschina Gold im Duett beschert hat, ist sie ganz Sportlerin. Sie weiß, dass viele albern finden, was sie macht. „Wir arbeiten jeden Tag zehn Stunden im Becken und im Kraftraum. Ich möchte jetzt zwar nicht alle unsere Geheimnisse verraten, aber mit dem Kopf nach unten im Wasser zu stehen, ist echt kein Witz.“ Im Trainingsanzug steht sie breitbeinig sie vor den Männern, die sie nach ihrem Sieg ausfragen. Eine starke Frau.
Die Pionierin des Wasserballetts
Das war auch Annette Kellerman. Mit ihr hat einst alles begonnen. Die Synchronschwimmerinnen der Gegenwart sehen sich als ihre Erbinnen. Im London des Jahres 1904 zeigte die damals 18-jährige Kellerman als Meerjungfrau in einem Wassertank auf der Varieté-Bühne des Hippodroms eine verblüffende Show. Ihr Wasserballett begeisterte die Gesellschaft.
In London hatte sich herumgesprochen, wer da als Nixe auftrat: eine der besten Schwimmerinnen jener Zeit. Mit 15 hatte sie in ihrer australischen Heimat alle Männer besiegt, war schneller als der schnellste Mann über die Meilendistanz. Um in London auf sich aufmerksam zu machen, schwamm sie 47 Kilometer lang die Themse hinab. Sie war ein sportliches Wunderkind. Dass sie drei mal bei einer geplanten Durchquerung des Ärmelkanals scheiterte, konnte ihren Ruhm nicht mindern.
„Wir müssen Ausdauersport machen, und können dabei oft nicht einmal atmen“, sagt Ischtschenko. In Russland hat sie es mit Duettpartnerin Romaschina schon zu großem Ruhm gebracht. Wenn die beiden eine neue Kür vorstellen, wird sie in allen Sportzeitungen besprochen. Welche sportliche Leistung dahinter steht, wissen die Sportfreunde in Russland.
Ischtschenko hat schon als Kind die Paddeltechniken gelernt, die es einer Synchronschwimmerin ermöglichen, die Ballettfiguren und Formationen zu turnen, auf die die Kampfrichterinnen so genau schauen. Die Techniken, die ein gutes Team zeigen muss, sind katalogisiert. Das macht das olympische Wasserballett erst zur Sportart. Nicht jede, die sich im Wasser elegant bewegen kann, darf sich Synchronschwimmerin nennen.
Ein unschlagbares Duo
Ein Jahr braucht es, bis Romaschina und Ischtschenko eine neue Kür zur Zufriedenheit ihrer Trainerin Tatjana Dantschenko vorführen können. Die Russinen gelten als unschlagbar. 15 Goldmedaillen haben sie gewonnen seit Synchronschwimmen olympisch ist – seit 1984. Niemand kann die Athletik so künstlerisch präsentieren wie die Russinnen. Das schätzen die Kampfrichterinnen, die neben den technischen Fähigkeiten auch den künstlerischen Eindruck bewerten.
Für Annette Kellerman war der künstlerische Eindruck wichtiger als der sportliche. Sie wurde in den USA mit ihrer Wassershow zum Varieté-Star. Ihr Outfit wurde ebenso bewundert, wie ihre Tauchfähigkeiten. Was sie dem Publikum vorführte war mehr als ein erotischer Tanz. Ihre Auftritte waren ein emanzipatorischer Akt. Sie hat in den USA als erste einen eng anliegenden einteiligen Badeanzug getragen. Weil sie den auch bei Boston am Strand trug, musste sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses für ein paar Tage ins Gefängnis. Als albern wird das Tun dieser Frau wohl niemand beschreiben können.
Natalja Ischtschenko muss lachen, als das Männerthema aufkommt. Die dürfen bei Olympia nicht mitmachen. Dabei gibt es längst Männer, die sich mit den Frauen im Becken messen wollen. In den USA und Kanada sind Wettbewerbe, in denen Männerformationen oder gemischte Teams antreten schon normal. Auch erste reine Männerwettbewerbe gibt es.
In Deutschland gilt der Bochumer Niklas Stoepel als Unikum. Er performt mit der Formation der FS Bochum und ist mit der schon deutscher Vizemeister geworden. Selbstbewusst sagt er über sein Verhältnis zu den Schwimmerinnen im Team: „Ich trainiere wie sie, bin auf dem gleichen Niveau.“ Er würde gerne einen Männerwettbewerb bei Olympia sehen. Er würde der Sportart ein neues Gesicht geben, glaubt er, „mehr Kraft bei weniger Gelenkigkeit“.
Keine angemessene Bühne in London
Noch aber gehört die Bühne allein den Frauen. Die sieht indes arg nach Wettschwimmbecken aus. Die Bahnmarkierungen am Boden zerstören viel von der Kunst, die da gezeigt wird. Und die Musikanlage in London ist einfach schauerlich. Kein Varieté-Theater würde so mit seinen Künstlerinnen umgehen.
Die Aufziehpuppen Ischtschenko und Romaschina haben zur Dramamusik aus dem Horrorfilm Suspiria ein irres Stück aufgeführt. Die Mehrzweckhallenatmosphäre, in die man sie gepackt hat, ist ihnen nicht gerecht geworden. Wenn Sport zur Kunst wird, braucht er eine angemessene Bühne.
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