Niederländischer Fußball-Intellektueller: „Holland spielt zynisch“
Henk Spaan erklärt holländische Fußballphilosophien. Und er sagt, wen er im zweiten Gruppenspiel aufstellen würde und warum er eifersüchtig auf die Deutschen ist.
taz: Herr Spaan, was ist bei der Niederlage der Holländer gegen Dänemark schiefgelaufen?
Henk Spaan: Keine Leidenschaft, kein One-touch-Fußball und viele vergebene Chancen. Und in der holländischen Mannschaft gab es zwei Blöcke, einen defensiven und einen offensiven, zwischen denen keine Kommunikation stattfand.
Das Problem war das Mittelfeld?
Ja. Und gegen Dänemark waren es vor allem die defensiven Mittelfeldspieler Mark van Bommel und Nigel de Jong.
Was hätte der Trainer Bert van Marwijk tun sollen?
Er hätte van Bommel auswechseln sollen und nicht de Jong. Van Bommel ist einfach zu alt. Über die Frage, wer hätte ausgewechselt werden sollen, gibt es jetzt auch Diskussionen innerhalb der Mannschaft, und einige Spieler sind sauer auf den Trainer.
63 Jahre, Journalist, ist einer der renommiertesten Fußballautoren Hollands. Er gehört zu einer Spezies, die hierzulande in dieser Form nahezu unbekannt ist: die des Fußballintellektuellen. Spaan schreibt Kolumnen für die Tageszeitung Het Parool, hatte früher eine eigene Fernsehsendung („Studio Spaan“) und gibt das literarische Fußballmagazin Hard Gras heraus. Zudem hat er vier Bände mit Fußballgedichten veröffentlicht.
Am Mittwoch spielt Holland gegen Deutschland. Spielt für Sie dabei die Erinnerung an das verlorene WM-Finale 1974 noch eine Rolle? Es heißt, viele aus Ihrer Generation hätten diese Niederlage nie überwunden.
Vor einigen Jahren habe ich mir dieses Spiel noch einmal angeschaut und musste überraschenderweise feststellen, dass Deutschland in der zweiten Hälfte wirklich besser war als wir. Dann kam es zur Revanche im EM-Halbfinale von 1988. Es ist zwar immer noch ein wenig bedauerlich, dass wir 1974 verloren haben, aber für mich ist es kein Drama mehr.
Der niederländische Fußball steht im Ruf, in seiner Idealform ebenso künstlerisch schön wie spielerisch zwingend zu sein.
Dieser Stil wurde bei der WM 1974 etabliert, Ausländer haben ihn „totalen Fußball“ genannt.
Das meint was?
Der Gegner wird schon in der eigenen Hälfte unter Druck gesetzt. Wenn er den Ball hat, wird er sogleich von mehreren Spielern umringt. Und hat man den Ball erobert, wird sofort auf Angriff umgeschaltet. Dazu gibt es ständige Positionswechsel, und die ganze Größe des Platzes wird ausgenutzt.
Es gibt die These, dass dies mit der holländischen Konzeption von Raum zu tun hätte. Weil Holland das am dichtesten besiedelte Land Europas ist, war man dazu gezwungen, den engen Raum kreativ auszunutzen.
Das hat der britische Autor David Winner in seinem Buch „Brilliant Orange“ formuliert. Es ist eine schöne Theorie, aber ich halte sie für Unsinn. Ich mag sein Buch sehr, Winner hat eine ironische Betrachtungsweise, und zugleich tritt er sehr leidenschaftlich für den holländischen Fußball ein. Aber dass sich etwa das Raumverständnis des Malers Mondrian im holländischen Fußball widerspiegelt, ist meines Erachtens nichts weiter als eine intellektuelle Spielerei.
Aber der „totale Fußball“ versucht schon, das Spiel in die Breite zu ziehen, und läuft darum meistens auch mit zwei Außenstürmern auf.
Ja. Aber dafür gibt es keinen künstlerischen oder intellektuellen Grund. Das hat allein mit der besonderen Art zu tun, wie hier bei uns seit den siebziger Jahren Fußball gelehrt wird: Den ganzen Platz zu nutzen und den Ball die Arbeit verrichten, ihn laufen zu lassen – das ist die Essenz die holländischen Fußballs.
Und heute spielt Holland nicht mehr so?
Nicht mehr in dieser Reinform. Im holländischen Fußball gibt es heute zwei Schulen: die Cruyff-Schule, die auf individuellen Fähigkeiten und ständigen Positionswechseln basiert, und die Van-Gaal-Schule. Die ist viel taktischer und jedes Spiel wird von der Seitenlinie aus gecoacht. In der Nationalmannschaft wie bei Ajax Amsterdam hat sich die Van-Gaal-Richtung durchgesetzt.
Dem FC Barcelona wird nachgesagt, er sei eine Kopie Hollands der siebziger Jahre.
Das stimmt nicht. Die niederländischen Mannschaften hatten immer auch eine andere, eine zynische Seite. Selbst das 74er-Team war wahrscheinlich nicht nur das beste seiner Zeit, sondern auch das härteste. Barcelona benutzt solche Methoden fast nie. Sie sind zu wendig und zu geschickt am Ball, um großen Wert auf die körperliche Seite des Fußballs zu legen.
So wie die Holländer im WM-Finale 2010 gegen Spanien?
Da ganz besonders. Aber schon zuvor ging es nur um das Ergebnis. Es war eine zynische Herangehensweise, eine fast italienische Art.
Das holländische Publikum will schönen Fußball sehen?
Ich denke schon. Ich jedenfalls war sehr enttäuscht darüber, wie die Niederlande bei der WM 2010 gespielt haben. Ich war sehr eifersüchtig auf die Deutschen und ihr romantischeres Spiel.
Das müssen Sie ausführen.
Die Deutschen spielen so wie die Holländer spielen sollten. Vor allem Mesut Özil ist für mich ein holländischer Spielertyp. Er ist eine klassische 10 nach niederländischem Verständnis, hat fantastische Fähigkeiten und ist taktisch perfekt. Auch Bastian Schweinsteiger ist ein holländischer Spieler.
Woher kommt das?
Es ist schon lustig: Die Deutschen haben sehr viel von uns gelernt, vor allem von der holländischen Nachwuchsarbeit. Sie haben Ajax, Feyenoord Rotterdam und den niederländischen Verband besucht. Mittlerweile haben die Deutschen eine vielleicht bessere Jugendförderung als wir. Nun sollten wir uns etwas davon abgucken, wie sie ihre jungen Spieler trainieren.
Und in der Gegenwart? Kann van Marwijk seine Mannschaft richtig einstellen?
Eigentlich mag ich ihn. Aber van Marwijk ist sehr konservativ. Deshalb befürchte ich, dass es gegen Deutschland kaum Änderungen geben wird.
Was würden Sie ändern?
Ich weiß es auch nicht genau. Klar ist nur: Er sollte van der Vaart statt van Bommel bringen.
Was ist mit Klaas-Jan Huntelaar, dem Torschützenkönig der Bundesliga? Sollte er anstatt Robin van Persie spielen?
Auf keinen Fall. Ich verstehe die vielen Holländer nicht, die Huntelaar in der Startelf sehen wollen. Für die Nationalmannschaft hat er bisher nicht allzu gut gespielt. Van Persie ist der einzige Weltklassespieler, den wir haben, auch wenn er gegen Dänemark einige Großchancen ausgelassen hat. Das Problem ist doch, dass sich einige seiner Mannschaftskollegen weigern, das Spiel nach ihm auszurichten.
Wer konkret?
Robben. Arjen Robben spielt nur für sich selbst. Er denkt, er allein sei das holländische Team, er sei Bayern München, hat aber von Mannschaftsspiel keine Ahnung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken