Nachruf Susanne Lothar: Die eisig Sanfte
Die Schauspielerin Susanne Lothar konnte sehr subtil agieren. Das zeigte sie unter anderem in „Das weiße Band“. Am Mittwoch verstarb sie im Alter von 51 Jahren.
Michael Hanekes Film „Das weiße Band“ aus dem Jahr 2009 ist reich an beklemmenden Szenen. Die beklemmendste davon gehört Susanne Lothar. Sie spielt eine Hebamme in einem streng protestantischen Dorf irgendwo im Norden Deutschlands.
Der Erste Weltkrieg steht bevor, im Dorf häufen sich rätselhafte Unfälle, die vielleicht Zufälle, vielleicht aber auch Verbrechen sind. Die Hebamme hat ein heimliches Verhältnis mit dem verwitweten Dorfarzt, dem sie zugleich als Sprechstundenhilfe und Zugehfrau dient.
In einer Szene ist die Kamera nah dran an seinem weißbekittelten Rücken, am rechten Bildrand sieht man das Gesicht der Frau, es bewegt sich rhythmisch vor und zurück. Rüde unterbricht der Mann plötzlich den Oralverkehr: „Ich kann einfach nicht mehr bei dir", hebt er zu einer Suada an: „Du bist hässlich, du bist ungepflegt, deine Haut ist schlaff und du riechst aus dem Mund."
Sie nimmt die Beleidigungen hin, die Lider gesenkt, das Gesicht fast reglos. „Ich weiß, dass ich kein schöner Anblick bin", sagt sie ohne Anstalten, ihre defensive Haltung aufzugeben: als hätte sie überhaupt keine Vorstellung davon, dass es so etwas wie Selbstbewusstsein und Gegenwehr geben könnte.
Blick von unten
Die Kamera blickt dabei leicht von oben auf sie herab. Wenn sie die Lider hebt, wird klar: Sie blickt von unten zu dem von ihr abgewandt stehenden Mann auf. „Hast du keine Angst, dass ich mir etwas antue?", fragt sie irgendwann, und er herrscht sie an: „Damit würdest du mich wenigstens überraschen." Vorsichtige Widerworte schiebt er schließlich mit einer Ohrfeige beiseite.
Der Filmemacher Michael Haneke hat eine Vorliebe für Szenen, in der die Figuren einander demütigen. Damit diese Szenen nicht in unfreiwillige Komik kippen, benötigt er Schauspieler, die subtil agieren. Susanne Lothar war eine solche Schauspielerin. Die tief in ihr Gesicht eingesunkene Trauer in „Das weiße Band" ist nur ein Beispiel dafür. Mit Haneke hat die gebürtige Hamburgerin insgesamt vier Filme gedreht, außerdem „Funny Games" (1997), die Kafka-Adaption „Das Schloss" (1997) und die Jelinek-Adaption „Die Klavierspielerin" (2001).
In „Funny Games" und „Das Schloss" spielte sie an der Seite ihres Mannes Ulrich Mühe, der auch in „Das weiße Band" eine Rolle übernehmen sollte, was sein früher Tod am 22. Juli 2007, vor fast genau fünf Jahren, verhinderte. Darüber hinaus arbeitete Lothar unter anderem mit Ulrich Seidl („Import Export", 2007), Maria Speth („Madonnen", 2007) und Andres Veiel („Wer, wenn nicht wir", 2011) zusammen, mit Regisseuren also, die für ein herausforderndes Kino stehen. Im Fernsehen kannte man sie vor allem aus Krimis, zuletzt war sie im „Polizeiruf 110"-Film „Die Gurkenkönigin" zu sehen.
Die Karriere dieser Ausnahmeschauspielerin hat einst auf dem Theater begonnen. Doch dort war sie in den letzten Jahren nur noch sporadisch zu sehen - 2006 etwa in Thomas Ostermeiers Eugene-ONeill-Variation „Trauer muss Elektra tragen“, wo sie die Klytaimnestra-Figur spielte, die an der Berliner Schaubühne "Christine" hieß: eine tief verletzte, fast unmerklich vertrocknete Kindfrau, die von ihrem Mann teilnahmslos bestiegen und gedemütigt wird, und deren Entsetzen über das Leben das einzig Unverbrauchte an ihr zu sein schien.
Die ge- und missbrauchten Frauen, die Susanne Lothar auf dem Theater oft gespielt hat, behielten immer einen Unschuldspanzer aus diesem Entsetzen über die Bestie Mensch. Egal was ihnen zustieß oder was sie selbst anrichteten.
Durchbruch als Lulu
In der Ambivalenz, mit der sie so ihre Figuren auszustatten verstand, lag eine Grundfaszination dieser Schauspielerin - angefangen bei ihrer legendären Lulu in Peter Zadeks berühmter Hamburger Inszenierung von 1988, die für die damals 27-Jährige der Durchbruch war. Sie spielte die berühmte Kindfrau damals fast nackt und doch war sie eine souveräne, selbstbewusste und lebenspralle Lulu, wie man dieses bis dahin so klischeebeladene Abziehbild aller Männerbegierde noch nie gesehen hatte. Eine junge Frau, die die Lust wirklich gegen den Mann zu wenden, ihre Ohnmacht in Macht zu übersetzen verstand (wie Madonna später noch viel aggressiver in ihren Bühnenshows).
Später wich das Physische ihrer frühen Bühnenfiguren einer subtil gebrochenen Bodenständigkeit, mit der Susanne Lothar Stücke und Stoffe zu erden verstand, die sonst an ihrer Konstruiertheit erstickt wären, Sarah Kanes "Gesäubert" zum Beispiel in Zadeks Hamburger Inszenierung, zehn Jahre nach „Lulu". Manchmal bestanden ihre Figuren nur noch aus Blicken, einer eisigen Sanftheit, die nur noch selten von kurzen Eruptionen eines erstickten Lebenshungers aufgebrochen wurde.
Susanne Lothars Figuren verloren nie die Durchlässigkeit zum wirklichen Leben mit seinen manchmal abgründigen Banalitäten, in denen so oft die eigentlichen Tragödien wurzeln. Das machte sie immer wieder auch zur Idealbesetzung für Stücke mit Absturzgefahr ins Boulevard, wie 2000 in Luc Bondys berühmt gewordener Wiener Inszenierung von Yasmina Rezas explosivem Kammerspiel „Drei Mal Leben" - auch hier an der Seite von Ulrich Mühe.
Der frühe Tod ihres Mannes war nicht der erste Schicksalsschlag für Susanne Lothar: 1960 in eine Schauspielerfamilie hineingeboren, starb ihr Vater Hanns Lothar, als sie neun Jahre alt war. Ein Halbbruder aus dessen früherer Ehe, der Schauspieler Marcel Werner, wurde nur 34 Jahre alt. Am Mittwoch ist Susanne Lothar überraschend gestorben, die Todesursache blieb zunächst unbekannt. Sie hinterlässt zwei Kinder, die noch nicht erwachsen sind. Wen die Götter lieben, stirbt jung, heißt es ja. Wir können daran nicht glauben.
Am Ende von „Funny Games" sieht man Susanne Lothars Figur auf einem Segelboot sitzen, gefesselt und geknebelt. Zwei junge Männer haben sie und ihren Ehemann (Ulrich Mühe) aufs Wasser verschleppt. 100 Minuten lang haben sie die beiden gequält, ihre Kinder umgebracht, und nun stoßen sie den ebenfalls gefesselten Mann ins Wasser. Die Kamera schaut in Susanne Lothars starres Gesicht. Haneke setzt das mit kaum auszuhaltender Gleichgültigkeit in Szene. Als sie in den See gestoßen wird, bleibt nicht viel mehr als das Geräusch eines Körpers, der aufs Wasser klatscht.
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