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Montagsinterview mit Henning Vierck„Im Paradies gibt es keine Tüten“

Der Gärtner Henning Vierck ist der Gründer des Comenius-Gartens in Neukölln. Durch seine Arbeit im Grünen wird der 64-jährige Vierck seinem Vorbild immer ähnlicher.

„Der Garten ist ein befriedeter Raum“: Henning Vierck in seinem Paradies. Bild: Ann Sophie Lindström
Frauke Böger
Interview von Frauke Böger

taz: Herr Vierck, wer den Comenius-Garten betritt, merkt schnell, dass dieser Garten kein gewöhnlicher ist: Hier die streng diagonal gepflanzten Blumen, dort verwilderte Wiesen. Dann ein Becken aus grünem Granit, akkurat geschnittener Rasen und am Eingang dieses seltsame Podest. Hat das alles eine Bedeutung?

Henning Vierck: Der Garten besteht aus einem Rundgang, einem Lebensweg.

Und was ist was?

Jeder Teil des Gartens steht für einen Lebensabschnitt, begonnen vor der Geburt bis zum Tod und darüber hinaus. Die diagonalen Blumenreihen etwa sind aus Veilchen gebildet, sie stehen speziell für die zweite Klasse der Grundschulzeit. Das Podest am Eingang steht für die Universität. Auch die Menschen, die hier im Viertel leben – und ich lebe schon seit über 20 Jahren hier –, verbinden die Stationen des Gartens mit ihren Erlebnissen. Der Garten lädt sich für jeden mit einer Geschichte auf.

Woher kommt die Idee für diese Gestaltung?

Die Idee zu dem Garten hatte ich selbst. Als Wissenschaftshistoriker habe ich mich mit Comenius, einem Klassiker der Pädagogik, beschäftigt. Ich wollte seine Vorstellung von der Welt visualisieren. Er hat sich die Welt nicht, wie es in seiner Zeit modern wurde, als Maschine vorgestellt – sondern als Garten. Das wollte ich in der Stadt realisieren. Und das ist mir gelungen: hier im Böhmischen Dorf, mitten in Neukölln.

Henning Vierck

Henning Vierck, 64, studierte in München Politologie und arbeitete an der Philosophischen Fakultät der Uni Bielefeld als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Danach kümmerte er sich als Hausmann um die Kinder. Nebenbei war er Mitglied eines Arbeitskreises des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, aus dem das Institut für Wissenschaftsgeschichte hervorging. Vierck leitet den Comenius-Garten im Böhmischen Dorf in Neukölln seit 20 Jahren. Er lebt mit seiner Frau in der Nähe des Gartens und hat drei Kinder.

Johann Amos Comenius lebte von 1592 bis 1670 und gilt als wichtigster Pädagoge des 17. Jahrhunderts. Er war Mitglied der freikirchlichen Gemeinde der Böhmischen Brüder und vertrat eine christlich-humanistische Lebensauffassung. Im Mittelpunkt seiner Lehre standen zwangsfreier Unterricht und Lernen durch Tun.

Die Idee für den Garten hatte Vierck 1985. Eröffnet wurde er 1992 in Anwesenheit von Alexander Dubcek, der Leitfigur des Prager Frühlings, der eine Statue des Tschechen Comenius als Geschenk mitbrachte. Der Garten ist eine wissenschaftshistorische Rekonstruktion des Werks von Comenius.

Ein Porträt von Henning Vierck ist auch Teil der Foto-Video-Serie berlinfolgen. Die Reihe erhielt den renommierten Grimme Online Award 2012 in der Kategorie Kultur und Unterhaltung.

Wer war Comenius?

Comenius lebte von 1592 bis 1670, also in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Er war Tscheche und musste hierher fliehen, weil nach der Schlacht am Weißen Berg seine Religionsgemeinschaft, die Böhmischen Brüder, nicht mehr geduldet war.

Was war sein pädagogisches Konzept?

Für Comenius ist Schule Sozialreform. Er hat eine sechsklassige Schule gefordert, in die alle Kinder eines Ortes gehen – Mädchen und Jungen, Arm und Reich, weniger Begabte und Hochbegabte. Zu den Hochbegabten gibt es einen schönen Satz von ihm: „Es ist ein Verbrechen an der Menschlichkeit, einen Zwölfjährigen zum Professor zu machen.“ Ihm geht es um die soziale Kompetenz. Deswegen ist es notwendig, dass alle Kinder gemeinsam zur Schule gehen und sich spielerisch auf ihr Leben vorbereiten. Das ist übrigens etwas, was für Neukölln ganz dramatisch an Bedeutung gewinnt. Plötzlich tauchen hier die sogenannten bildungsnahen Schichten auf und mieten kostengünstige Wohnungen. Aber die Kinder, die diese Menschen dann bekommen, gehen in anderen Bezirken zur Schule. Das ist ganz und gar gegen Comenius: Damit wird soziale Kompetenz, die Kinder qua Geburt haben, zerstört.

Die Kinder kommen zu Workshops und Seminaren in den Garten. Wie lernen sie hier?

Der Mensch möchte aus eigenem Antrieb lernen. Deswegen forschen die Kinder hier zusammen mit Wissenschaftlern, die am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte arbeiten. Dieses Forschen auf Augenhöhe bedeutet, dass sowohl die neugierigen Fragen der Kinder als auch die neugierigen Fragen der Wissenschaftler Antworten finden. Würde Comenius heute Schule machen, wäre Schule keine Lehranstalt, sondern eine Forschungseinrichtung.

Wie reagieren die Menschen auf Sie und den Garten?

Es passiert immer wieder, dass Lehrer zu mir kommen und sagen: „Was habt ihr mit diesem Kind gemacht? Das hat immer nur mit trüben Augen hinten in der letzten Bank gesessen, und auf einmal sprühen Geistesblitze.“ Aber wir haben gar nichts gemacht. Lernen geht nur durch eigenen Antrieb. Das Kind hat durch den befriedeten Raum die Möglichkeit bekommen, seine Fragen zu beantworten. Hier wird es nicht ständig geschubst – dies musst du wissen, das musst du wissen –, sondern es probiert selbst. Die größte Mitgift, die der Schöpfer uns nach Comenius’ Vorstellung gegeben hat, ist die Freiheit, das Ausprobieren, das Spielen. Schola ludus, sagt er: Schule als Spiel.

Wie viele Besucher kommen zu Ihnen?

Tausend Kinder kennen den Garten bestimmt. Im letzten Jahr hatten wir im Garten rund 1.000 Äpfel und Birnen. Mit anderen Worten: Jedes Kind hier hat einen frisch gepflückten Apfel bekommen, eine Birne oder eben eine Hand voll Kirschen fürs Leben.

Geht das immer gut, dass hier so viel los ist?

In den ersten Jahren wurde unglaublich viel zerstört. Da sind nicht nur Äste abgebrochen worden, sondern auch Bäume kaputtgegangen. Inzwischen ist es so, dass die Kinder den Garten als den ihrigen betrachten und mit ihm viel pfleglicher umgehen als früher – und auch pfleglicher als die Touristen, die kommen. Solange der Garten den Kindern gehört, bleibt er erhalten. Das Böhmische Dorf und damit auch der Garten sind etwas, das man vorzeigen kann. Jeder, der Neukölln gut kennt, kennt den Comenius-Garten. Er ist ein Kleinod.

Es gibt einen Zaun um den Garten.

Für Erwachsene ist der Garten erst mal ein verschlossener Ort, man kommt ohne weiteres nicht hinein. Für Kinder ist das anders, die können sich den Garten zur Not kletternd erobern. Erwachsene müssen fragen, wie man reinkommt. Jeder, der den Garten betritt, übernimmt dadurch Verantwortung für diesen Ort.

Und die wird tatsächlich übernommen?

Der Garten ist ein Raum, in dem Toleranz möglich ist. Nicht in dem Sinne, dass man alles machen darf, wenn es den anderen nicht stört –, sondern Toleranz so verstanden, dass man etwas von seiner Position zurücknimmt, um den anderen teilhaben zu lassen. Das ist ein Toleranzbegriff, der eigentlich nur in befriedeten Räumen möglich ist.

Gibt es Regeln?

Ja, aber die verändern sich stetig, wie sich auch der Garten verändert. Gerade für die Kinder ist das wichtig zu lernen. Es gibt eine Regel, die leider immer wieder gebrochen wird: Kinder kommen mit Tüten für die Früchte in den Garten. Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als zu sagen, dass es im Paradies keine Tüten gibt. Da lebt man von der Hand in den Mund.

Wie sind Sie auf Comenius gestoßen?

Ich habe Politologie studiert, und ausgerechnet ein erzkonservativer Professor hat mich als jungen 68er darauf aufmerksam gemacht, dass es das Konzept der Basisdemokratie schon lange gibt. In Böhmen gab es etwa die Brüder und Schwestern des Gesetzes Christi, zu denen Comenius gehörte, die basisdemokratische Vorstellungen hatten. Seit ich das weiß, beschäftige ich mich damit.

Was interessiert Sie besonders?

Comenius hat ein spannendes Werk geschrieben, das leider verloren gegangen war und erst 1935 wiederentdeckt wurde. Das hat den schönen Titel „Allgemeine Beratung zur Verbesserung der menschlichen Dinge“. Er überlegt darin, wie der Mensch ohne Herrscher auskommt, und zwar im Konsens – alle stimmen mit allen überein. Das ist ein sehr kompliziertes Verfahren, das ich mit den Menschen, die in den Garten kommen, nachvollziehe. Vor allem mit den migrantischen Gemeinschaften, die hier leben, konnte ich das lernen. Die sind sehr empathisch.

Wie meinen Sie das?

Für Comenius werden Konflikte durch Denken, Sprechen und Handeln gelöst. Wenn man ein Problem erkennt, kann man es erst mal durchdenken, kommt damit aber noch nicht zu einer Lösung. Man muss dieses Problem auch durch jemand anderen erkennen, nur dann kann man zu einer Lösung kommen – und dazu ist das Gespräch notwendig. Im Garten kann man Lösungen für dramatische Situationen zum Glück vergleichsweise einfach finden, allerdings nur vermittelt: Man kann zum Beispiel einen Apfel pflücken. Der Garten ist dazu da, Austausch zu unterstützen. Er ist erst mal schlicht ein befriedeter Raum, für Kinder ist er ein Schutzraum. Wenn es irgendwo Not gibt, kommen die Kinder zu mir und bitten um Hilfe. Es ist ein Garten mit vielen Früchten. Jeder, der hier als Kind viel Zeit verbracht hat, läuft später mit einer Hand voll Kirschen durch sein Leben.

Haben Sie auch Kirschen dabei?

Für mich kommt zu der politologischen Frage, wie Menschen sich selbst ohne Herrscher regieren können, noch eine kindliche Erinnerung dazu. Ich bin in einer unglaublich heilen Welt auf einem kleinen Hügel aufgewachsen, umgeben von mehreren Seen, mit ein paar Freunden, Geschwistern, Enten, Schweinen, Vögeln und Pflanzen. Nach der Schule habe ich studiert, danach noch kurz an der Universität gearbeitet, dann kam ich nach Berlin. Mir fehlte diese Kindheit. Ich denke, es ist mir gelungen, sie in diesen 7.000 Quadratmetern wieder zurückzuholen.

Ist der Garten Ihr Lebenswerk?

Inzwischen komme ich dazu, dass ich mich von außen angucke, weil Lebenszeit begrenzt ist. Ich bemühe mich jetzt, den Garten der nächsten Generation zu übergeben. Insofern ist er ganz und gar ein Lebenswerk – was auch der Vorstellung von Comenius entspricht. Er hat einen ausgeprägten Werkbegriff.

Sie beantworten alles mit Comenius. Sehen Sie sich als eine Art Nachfolger?

Ich versuche, Comenius zu verstehen und in jeder Situation – in schönen, in schwierigen, in gefährlichen Situationen – Antworten zu finden, wie sie Comenius geben würde. Das heißt schon, dass ich ihm möglicherweise immer ähnlicher werde und damit Teile meiner Persönlichkeit, die eigentlich zu mir gehören, verlasse. Das ist eigentlich ein gefährliches Unternehmen. Aber ich habe das Glück, dass ich mich mit einem Menschen beschäftige, dessen Denken meinem sehr nahe ist. Ich finde in seinem Denken viel wieder, was ich auch unabhängig von ihm gedacht habe.

Beunruhigt Sie das nie?

Im Alter ist Comenius oft sehr streng, beinahe starrsinnig geworden. Er hat aus unserer Sicht verzweifelt an die Verbesserung der menschlichen Dinge gedacht und seine Umgebung geradezu verpflichtet, das fortzusetzen, was er begonnen hat. Ich muss aufpassen, dass mir das nicht auch passiert. Aber ich fühle mich schon als Henning Vierck. Die Nächsten sind meine Familien, meine Freunde, und dann irgendwann kommt Comenius. Wobei seine jüngste Enkelin witzigerweise Lilly hieß. Eine meiner Enkelinnen auch.

War das Zufall?

Absolut.

Lernen Sie selbst auch hier?

Comenius sagt: Der größte Schüler bin ich selbst. Ich hoffe, dass ich noch Zeit genug haben werde, aufzuschreiben, was ich hier gelernt habe. Ich war sehr neugierig, wie ein friedfertiges Leben möglich ist, ohne in absoluter Ruhe zu leben – also ein friedfertiges Leben mit quirliger Lebendigkeit. Ich glaube jetzt, dass dieses Wechselverhältnis zwischen innerem und äußerem Diskurs ein solches Leben ermöglicht. Genau das haben wir in den letzten 20 Jahren ausprobiert. Wenn ich den Garten der nächsten Generation übergebe, hoffe ich, dass ich noch genügend Zeit habe, das zu formulieren.

Gärtnern Sie auch?

Ohne die Verantwortung für das Ganze ist der Garten nicht zu realisieren. Das heißt, ich bin für alles verantwortlich – so wie alle anderen im Übrigen auch. Gärtnern gehört dazu, das entspricht dem Werkbegriff von Comenius. Eine der wichtigsten Aufgaben im Garten war von Anfang an das Einsammeln von Glasscherben, Plastiktüten, irgendwelchen Hinterlassenschaften. Alle, die den Garten in den ersten Jahren betreten haben, waren entsetzt, dass es keine Mülleimer gibt. Mittlerweile bleibt nur noch wenig Müll liegen. Das Einsammeln von Unrat ist aber immer noch eine der wichtigsten Aufgaben.

Wie lange wollen Sie hier noch arbeiten?

Ich wollte eigentlich ganz normal mit 65 aufhören. Aber ich habe mit meiner Familie gesprochen, und die hat nichts dagegen, wenn ich noch weitermache.

Was bedeutet der Garten für die Stadt?

Man befindet sich mitten auf dem Land in einer Metropole. Urbanität bedeutet, dass man auf engem Raum miteinander auskommen muss. Das ist eine Familiarität, die es ermöglicht, mit allen Konflikten in der Welt umzugehen. In Neukölln und an anderen Orten in Berlin, in Metropolen generell gibt es viele Menschen, die im Exil sind. Sämtliche Konflikte dieser Welt sind in Metropolen präsent. Aber durch unterschiedliche Kulturen und Religionsgemeinschaften auf engem Raum sind auch viele Lösungsmöglichkeiten vorhanden. Es ist eine enorme Chance, die solch eine Stadt bietet, wenn sie ländliche Räume, Gärten zulässt. Migrantische Gemeinschaften gibt es viele, das ist kultureller Reichtum im wirtschaftlich armen Nord-Neukölln. Daraus können unglaublich schöne Sachen entstehen.

Fühlen Sie sich als etwas Besonderes?

Erst mal fühle ich, dass ich in meinem Garten bin, der aber auch allen anderen gehört. Ich fühle mich als Teil der Gesellschaft, und zwar als der glückliche Teil. Und ab und zu kann ich etwas davon abgeben.

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