Menschenrechtlerin über Syrien: „Die EU wollte bislang nicht“
Die Europäer könnten viel mehr Druck auf Russland und China ausüben, sagt Lotte Leicht, Direktorin von Human Rights Watch. Verhandlungen mit Assad hält sie für sinnlos.
taz: Frau Leicht, das Assad-Regime wird diese Woche eine Maßnahme durchführen, die es „Wahlen“ nennt. Was halten Sie davon?
Lotte Leicht: Der Assad-Clan mag es, sich in Wahlen wählen zu lassen, die keine sind. Das ist eine Familientradition. Es ist eine Farce.
Wie sollte die internationale Öffentlichkeit reagieren?
Wir sollten es als das nehmen, was es ist: einen zynischen Akt, initiiert von dem Hauptverantwortlichen dafür, dass heute über 9 Millionen Syrer das Land verlassen mussten oder intern vertrieben wurden und von humanitärer Hilfe abhängen. Assad ist dafür verantwortlich, dass Zehntausende Syrer in diesem Moment in Gefängnissen sitzen, weil sie gegen sein Regime aufbegehren. Es ist ein sehr zynischer Akt eines sehr zynischen Despoten.
Die EU hat sich erst jetzt darauf geeinigt, den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) per Resolution anzurufen, sich der Kriegsverbrechen in Syrien anzunehmen. Warum hat das so lange gedauert?
Seit eineinhalb Jahren stimmen 27 Länder für diese Resolution, doch ein EU-Mitglied fehlte, und zwar Schweden. Dass die Schweden so lange nicht ins Boot geholt wurden, zeigt, dass es auch den Befürwortern viel zu lange wohl vor allem um PR ging: Seht her, wir wollen Gerechtigkeit! Das macht sich immer gut. Aber daran zu arbeiten, eine breite Allianz für eine Überweisung an Den Haag auf die Beine zu stellen, stand nicht auf der Agenda. Auch Cathy Ashton, die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, setzt bis heute vor allem auf Appelle. Bis vor Kurzem fehlte schlicht der politische Wille, die Kriegsverbrechen, die auf allen Seiten begangen werden, ernsthaft zu verfolgen. Ansonsten stünden wir heute ganz woanders.
Erwartungsgemäß haben China und Russland die Resolution im UN-Sicherheitsrat blockiert. Ist der Ruf nach Den Haag nicht sinnlos?
Nein. Bislang wurden längst nicht alle Mittel ausgeschöpft, um auf China oder Russland Druck auszuüben.
leitet seit 1994 das Brüsseler Büro von Human Rights Watch. Die Rechtsanwältin hat viele Untersuchungen zu Menschenrechtsverletzungen durchgeführt und ist Mitherausgeberin von „Monitoring Human Rights in Europe“.
Was wurde verabsäumt?
Etwa Südafrika und Brasilien (sie haben das Statut des ICC ratifiziert) zu überzeugen, Partei für die Opfer in Syrien zu ergreifen und ihre guten Kontakte zu Russland und China zu nutzen. Die EU sollte sich nach dem Veto nicht wieder zurückziehen, sondern angesichts der Niederlage endlich mehr Länder gewinnen, damit es für die Mächte, die etwas ändern können, richtig peinlich wird, Kriegsverbrecher weiter unbehelligt zu lassen.
Was wäre der nächste Schritt hierzu?
Im Juni trifft sich der Menschenrechtsrat der UN in Genf. Eine Resolution, die die Opfer in den Fokus rückt und den Sicherheitsrat auffordert, seine Arbeit zu machen und Den Haag anzurufen, wäre der nächste Schritt.
Viele halten Verhandlungen mit Assad für effizienter als die UN und Den Haag.
Natürlich ist Den Haag nur ein Puzzleteil in einem viel größeren Spiel. Um in Syrien Frieden zu erreichen, braucht es eine ganze Reihe von weiteren Maßnahmen. Aber die Verfolgung von Kriegsverbrechen verhindert Frieden nicht, sondern kontinuierliche Verbrechen und Straffreiheit tun das. Deshalb müssen die mutmaßlich Verantwortlichen marginalisiert werden. Sie sind die Falschen, um einen anhaltenden Frieden auszuhandeln.
Sie halten weitere Friedensverhandlungen mit Assad für sinnlos?
Ja. Im Bosnienkrieg hat man auch davon abgesehen, sich mit dem ehemaligen Präsidenten Bosniens, Radovan Karadzic, und dem General Ratko Mladic an einen Tisch zu setzen. Auf Syrien bezogen, heißt das: Natürlich war es richtig, mit dem Regime verhandeln zu wollen. Darum ging es ja in Genf. Aber das bedeutet nicht, dass man sich mit demjenigen zusammensetzt, der die größten Verbrechen zu verantworten hat, also Assad. Fakt ist, dass er eine ausschließlich militärische Lösung in Syrien verfolgt. Selbst während der Verhandlungen ließ er die Zivilbevölkerung unerbittlich bombardieren.
Für Waffenfirmen, auch in Europa, ist der Krieg in Syrien ein Segen.
Der größte Waffenlieferant an Assad ist der staatseigene russische Rüstungskonzern Rosoboronexport. Er beliefert die syrische Luftwaffe mit Flugzeugen sowie Kampfjets und arbeitet mit dem italienischen Flugzeughersteller Alenia zusammen. Vor einem Jahr hat die EU das Waffenembargo gegen Syrien aufgehoben – weil einige EU-Mitglieder die Opposition mit Waffen versorgen wollten. Gleichzeitig wurde klargestellt, dass Parteien beliefert werden dürfen, die Kriegsverbrechen verüben.
Der italienische Konzern könnte belangt werden?
Ja, die EU könnte hier direkt intervenieren, doch kein EU-Land hat sich dazu geäußert. Ich habe eine entsprechende Anfrage gestellt, doch bislang steht jede Antwort aus.
Die EU nimmt ihr eigenes Versprechen nicht ernst?
Das gilt zumindest für ein Land – und die anderen schweigen dazu. Irgendwas läuft hier ganz falsch.
Viele syrische Oppositionelle finden es falsch, dass die Internationale Gemeinschaft den Rebellen vor Ort keine Waffen zur Verteidigung gegen die Luftangriffe zur Verfügung stellt. Es wäre so einfach, die primitive Luftwaffe von Assad auszuschalten.
Das ist richtig. Inzwischen werden Bomben selbst von Hubschraubern abgeworfen, die bekanntlich sehr tief fliegen, weil vom Boden her keine Gefahr droht. Trotzdem ist es keine Lösung, in einer sehr fragilen Situation noch mehr Waffen zu liefern. Deshalb sind differenzierte Waffenembargos so wichtig, die auf die für Kriegsverbrechen Verantwortlichen zielen. Und jetzt rede ich nicht allein von Waffen für Assad aus Russland oder Iran, sondern auch von Waffenlieferungen aus den Golfstaaten an Extremisten.
Im Osten Syriens bahnt sich eine neue humanitäre Katastrophe an: Die Stadt Deir al-Zor liegt in einer erdölreichen Gegend. Sie dürfte nach Homs die nächste sein, die von den Rebellen aufgegeben werden muss. Im Moment leben hier noch etwa 210.000 Zivilisten. Was kann man tun?
Der Sicherheitsrat müsste klarmachen, dass sich die Zeiten geändert haben und der Preis für die humanitäre Blockade ab jetzt steigt. Solange hier nichts passiert, bleibt es für die Kriegsparteien sehr effektiv, möglichst viele Zivilisten umzubringen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau