Menschenrechte in der Ukraine: Die Polizei, dein Feind und Folterer
Sie sind chronisch unterbezahlt, korrupt und neigen zu Gewalt. Ukrainische Polizisten terrorisieren die Bevölkerung – bisweilen bis zum Tod.
KIEW taz | Hunderte Seiten Dokumente, fein säuberlich und chronologisch in Plastikhüllen in einem Ordner abgeheftet und zuoberst das Bild eines traurig dreinblickenden jungen Mannes mit kurz geschorenen Haaren: Zeugnisse eines zu kurzen Lebens und eines erbitterten Kampfs um späte Gerechtigkeit.
„Das war mein Sergei“, sagt Soja Karpilenka. Hier, in einem karg möblierten Besprechungszimmer des staatlichen Forschungsinstituts Kwant in der Uliza Fjodorowa unweit des Zentrums der ukrainischen Hauptstadt Kiew, will die dreifache Mutter die Geschichte ihres ältesten Sohns erzählen. Sojas Arbeitsplatz befindet sich nur fünf Minuten Fußweg entfernt vom Olympiastadion. Am 11. Juni läuft dort das erste von mehreren EM-Spielen: Ukraine gegen Schweden. Zehntausende Touristen werden erwartet.
Sergei ist am 7. November 2011 im Alter von 27 Jahren in einem Kiewer Krankenhaus gestorben. „Der Staat hat ihn umgebracht, sagt die 55-Jährige und ringt einen kurzen Augenblick um Fassung.
Nach Angaben des ukrainischen Innenministeriums beträgt die Anzahl der Polizeibediensteten im Land insgesamt 357.000. Davon sind 33.000 sogenannte innere Sicherheitskräfte. 2011 betrug das Budget des Innenministeriums umgerechnet 1,1 Milliarden Euro, für dieses Jahr sind 1,7 Milliarden Euro vorgesehen.
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Um den Sieg bei der Fußball-Europameisterschaft (8. Juni bis 1. Juli 2012) wird in der Ukraine in vier Austragungsorten gespielt: in Lemberg, der Hauptstadt Kiew, in Charkow und Donetzk. Die ersten beiden Begegnungen finden am 9. Juni in Charkow und Lemberg - dort mit der Begegnung Deutschland gegen Portugal - statt, das Finale im Kiewer Olympiastadion. Allein in Kiew werden über eine Million Fans erwartet. (taz)
2004 wird Sergei wegen des Diebstahls eines Mobiltelefons und einer Damenhandtasche festgenommen. Obwohl ihm die Vergehen nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden können, wird er zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. 2008 kommt er auf freien Fuß, zieht erneut bei seiner Familie ein und nimmt wieder seine Arbeit als Schlosser auf.
Er landet auf der Intesivstation
Am 21. Dezember 2009 meldet eine Frau ihr Handy als gestohlen. Am 26. Dezember wird Sergei bei der Miliz vorgeladen und kehrt abends nicht nach Hause zurück. Soja braucht mehrere Tage, um herauszufinden, dass ihr Sohn in einem Untersuchungsgefängnis einsitzt. In den folgenden Monaten hat sie nur hin und wieder telefonischen Kontakt zu ihm.
Am 21. April 2010 erhält Soja einen Anruf aus dem Krankenhaus. Sergei liege auf der Intensivstation, bei zwei Operationen seien unter anderem die Milz und Teile eines Lungenflügels sowie einer Niere entfernt worden. In der Klinik darf Soja Sergei zumindest sehen, wenngleich nur durch eine Scheibe. Er wird von mehreren Personen bewacht und ist mit Handschellen gefesselt. „Ohne in Tränen auszubrechen, konnte ich den Anblick nicht ertragen“, sagt sie.
Ende April wird Sergei wieder ins Untersuchungsgefängnis überstellt. Fast täglich berichtet er seiner Mutter von unerträglichen Schmerzen und erkrankt an einer Lungenentzündung. Soja schreibt sich an die Gefängnisleitung die Finger wund, doch die sieht keinen Grund für eine besondere medizinische Behandlung.
Im Februar 2011 wird Sergei erneut zu viereinhalb Jahre Haft verurteilt. Mit der Unterstützung eines Anwalts findet Soja Details darüber heraus, welche Qualen Sergei sowohl gleich nach seiner Festnahme als auch in der Haft durchlitten hat. „Er wurde immer wieder brutal misshandelt, damit er endlich ein Geständnis ablegt“, sagt Soja.
Das Schicksal Sergeis ist kein Einzelfall. Unter Staatspräsident Wiktor Janukowitsch, der wegen der unmenschlichen Behandlung der früheren Regierungschefin Julia Timoschenko seit Monaten in der Kritik ist, hat sich das Land zu einem autokratischen Regime entwickelt. Schwerste Menschenrechtsverletzungen sind hier an der Tagesordnung. Dabei reichen die gängigen Methoden von Schlägen mit Gegenständen und Tritten, dem Anketten an Heizungsrohren und Überstülpen von Gasmasken bis hin zu Stromstößen.
Jeder 50. wird Opfer der Miliz
Allein im vergangenen Jahr wurden Erhebungen der Vereinigung ukrainischer Menschenrechtler zur Beobachtung von Rechtsverletzungen (UMDPL) zufolge rund 900.000 Menschen in der Ukraine Opfer von Folter und Gewalt durch Angehörige der Miliz, so die Bezeichnung für die Polizei im Land. Das wäre bei 45 Millionen Einwohnern jeder 50. Ukrainer. „Die tatsächliche Zahl könnte noch höher liegen“, sagt Oleg Martinenko, ein leitender UMDPL-Vertreter.
In seinem ersten Leben arbeitete Martinenko 20 Jahre im Rang eines Oberst bei dieser Miliz – als Gefängnispsychologe und Dozent an der Milizakademie in Charkow. Von 2006 bis 2008 war er Berater des damaligen, derzeit inhaftierten, Innenministers Juri Lutzenko. Dann wechselte der heute 46-Jährige zu einem beim Innenministerium angesiedelten Monitoring-Team für Menschenrechtsverletzungen. Als das zwei Jahre später aufgelöst wurde, gründete er die UMDPL.
Für das brutale Verhalten vieler Milizionäre macht Martinenko mehrere Gründe verantwortlich. Die sogenannten Ordnungshüter stehen unter einem enormen Druck, eine möglichst hohe Aufklärungsrate nachweisen zu müssen. Denn nur so haben sie die Chance auf Beförderung. Doch mittlerweile ist es nicht mehr die Aussicht auf einen weiteren Stern auf den Schulterklappen, die viele Milizionäre zu Folterern in Uniform werden lässt. „2010 hatten 80 Prozent aller Vorfälle mit Korruption zu tun. Die Milizionäre versuchen, an Geld zu kommen, egal wie“, sagt Martinenko.
Das verwundert nicht, sind doch alle Milizbediensteten chronisch unterbezahlt. So verdient ein Unteroffizier umgerechnet nur 120 Euro, ein Leutnant 180 Euro und ein Major 350 Euro im Monat. Die Art und Weise, wie vermeintliche Delinqenten finanziell erleichtert werden, folgt immer demselben Muster. Eine Person wird festgenommen und unter Anwendung von Misshandlung und Folter zu einem Geständnis gezwungen. Dann heißt es, man könne die Sache gegen Entrichtung einer gewissen Summe auch auf sich beruhen lassen. Der Betroffene darf seine Verwandten anrufen, die ihn auslösen.
Eine weitere Ursache für die Zustände auf Milizrevieren und in Haftanstalten liegt darin, dass die Verantwortlichen für ihr Tun meist nicht zur Verantwortung gezogen werden. Findet sich ein Milizionär wider Erwarten doch vor Gericht wieder, wird er nicht wegen Folter, sondern wegen Verletzung seiner Dienstpflicht bestraft. 2011 wurden lediglich 78 Milizionäre wurden wegen Gewaltanwendung verurteilt.
Ob die Miliz bei Fußballfans abkassieren wird, bleibt abzuwarten
Unlängst wurde eine Kommission gegründet, die sich dem Kampf gegen Korruption bei der Miliz verschrieben hat. Sie begann damit, die Entgegennahme von Schmiergeldern zu ahnden. „Allein damit werden wir rein gar nichts erreichen“, sagt Martinenko. Ginge es nach ihm, würden alle Milizionäre entlassen und müssten ein neues Bewerbungsverfahren durchlaufen.
Als positives Beispiel einer erfolgreichen Polizeireform führt er Polen an. Dort sei, nicht zuletzt auf Druck der Europäischen Union, innerhalb von zwei Jahren, die Korruption innerhalb des Polizeiapparats nahezu verschwunden. „Doch um auch hier eine Polizei nach europäischem Vorbild aufzubauen, bräuchten wir finanzielle Unterstützung aus dem Ausland und den politischen Willen unserer Regierung, etwas zu verändern. Doch diesen Willen hat unser Präsident nicht“, sagt er.
Wie sich die Miliz gegenüber den zigtausenden Fans während der Fußball-EM verhalten wird, wagt Marina Tsapok, eine Kollegin von Martinenko bei der UMDPL, nicht vorherzusagen. Trotz der Gefahr eines Imageschadens für die Ukraine könnten einige Polizisten versucht sein, bei den Besuchern so richtig abzukassieren.
Viel Geld hat Soja Karpilenka, die Mutter von Sergei, nicht. Im Frühjahr 2011 verschlechtert sich sein Gesundheitszustand rapide. Aus der verschleppten Lungenentzündung ist eine Tuberkulose geworden, zudem leidet der 27-Jährige unter verschiedenen Infektionskrankheiten. Im Mai wendet sich Soja an die Kiewer Staatsanwaltschaft. „Helfen Sie mir, meinen Sohn aus dem Gefängnis herauszuholen, sie haben ihn dort zum Invaliden gemacht“, heißt es in dem Schreiben, mit dem die Verfasserin noch einmal um eine angemessene medizinische Versorgung ihres Sohns bittet. Und: „Ein Opfer von Folter kann jeder werden. Nur warum will niemand dafür die Verantwortung übernehmen? Und niemand etwas damit zu tun haben?“
Im Oktober wird Sergei erneut ins Krankenhaus eingeliefert. Mit Hilfe von Verwandten und Freunden kratzt Soja 2.000 Griwna (umgerechnet 200 Euro) für Medikamente zusammen. Kurz darauf stirbt Sergei – an Ersticken. Bei einer Autopsie werden schwere Verformungen des Gehirns festgestellt – offenbar die Folge von massiven Schlägen auf den Kopf.
Am 12. Januar 2012 erklärt ein Berufungsgericht in Kiew Sergei posthum für nicht schuldig. Warum sie denn weiter für ihren Sohn kämpfe, der sei doch ohnehin tot. Solche wie er seien nur Müll, habe ihr der zuständige Staatsanwalt gesagt, erzählt Soja. Sie will sich jetzt für Sergeis vollständige Rehabilitierung und die Bestrafung seiner Peiniger einsetzen. „Bekannte haben mich gewarnt und mir gesagt: Mach endlich Schluss damit, sonst machen die dich auch noch fertig. Aber ich werde nicht damit aufhören“, sagt Soja.
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