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Kritikerin über Bücher und Autoren„Mir geht es um Migrationsliteratur“

Die Kritikerin Sigrid Löffler über ihr umstrittenes Buch, außereuropäische Schriftsteller, Weltwanderungen und vier Ankunftsstädte.

„Mein Thema ist die postkoloniale Literatur“, sagt Sigrid Löffler über ihr neues Buch. Bild: dpa
Andreas Fanizadeh
Interview von Andreas Fanizadeh

Sigrid Löffler ist die Grande Dame der deutschsprachigen Literaturkritik. Mit ihren Betrachtungen über die neue Weltliteratur hat sie eine handfeste Kontroverse ausgelöst. „Eigene kulturtheoretische Thesen entwickelt sie kaum“, lautete das Urteil von Ijoma Mangold in der Zeit. Hubert Spiegel sprach in der FAZ von einer „Anhäufung altbackener Klischees“ und einer willkürlich erscheinenden Auswahl englischsprachiger Autoren. Und in der SZ monierte Ina Hartwig, dass schwer nachvollziehbar sei, wie sich bei Löffler die „neue post-postkoloniale Migration von der Generation der Klassiker des Postkolonialismus“ absetze. Fragen über Fragen, wir trafen Sigrid Löffler zum Gespräch in Berlin.

sonntaz: Frau Löffler, woher rührt Ihr großes Interesse für außereuropäische Literaturen und Schriftsteller, die mit einer transkontinentalen Perspektive schreiben?

Sigrid Löffler: Ich habe von jeher diese Literatur gelesen, von den frühen Werken von Naipaul, Rushdie oder Coetzee angefangen. Außereuropäische Literatur ist heute nicht mehr das Thema von Nischen- oder Spezialverlagen. Inzwischen halten es auch die großen Publikumsverlage für geboten, einen afrikanischen, asiatischen oder karibischen Autor im Programm zu haben. Und so schien mir der Moment jetzt richtig, einem deutschsprachigen Publikum eine Art Überblick über diese nach dem Zweiten Weltkrieg neu entstandene Literatur zu geben, die immer wichtiger wird.

Ihr vor wenigen Monaten veröffentlichtes Buch heißt „Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler“. Frau Löffler, was ist neu an dieser neuen Weltliteratur, so wie Sie sie sehen?

Neu ist, dass es sich um globale Literatur handelt, die Autoren aus Weltgegenden stammen, von denen man bisher gar nicht geahnt hatte, dass dort Literatur entstehen könnte. Oft stammen sie aus Krisen- und Bürgerkriegsregionen, aus Ländern, die bisher zum Teil weder eine Literatur noch eine Literatursprache hatten. Man denke nur an Somalia. Und dass diese Literatur sehr eng verknüpft ist mit den vier großen Themen, die ich seit 1945 entdecke: Entkolonialisierung, weltweite Migration, Landflucht und Verstädterung. Sie wird zumeist von Migranten geschrieben, ist Migrationsliteratur, und häufig wird sie nicht in den jeweiligen lokalen Muttersprachen der Autoren geschrieben, sondern von Sprachwechslern auf Englisch oder Französisch.

Sie setzen Ihre Literaturgeschichte mit dem Ende des britischen Empire an, also der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als Staaten wie Indien oder Pakistan unabhängig wurden. Warum wählten Sie ausgerechnet diesen Ausgangspunkt?

Das große Problem meiner Arbeit lag in der ungeheuren Menge an Literatur. Wie ordne ich das? Die meisten dieser Bücher, zwischen 80 und 85 Prozent dieser neuen globalen Literatur, werden auf Englisch geschrieben. Und sehr viele der Autoren kommen aus ehemaligen britischen Kolonien. Es schien mir logisch, den Zerfall des britischen Empire als Matrix zu nehmen. Ich konnte zwei Bewegungen feststellen: einerseits die Migration ins Mutterland und andererseits die Autoren, die in den Kolonien verblieben und über die nachkoloniale Entwicklung ihrer Länder schreiben. Ein weiteres Erklärungsmodell habe ich dem Autor Doug Saunders zu verdanken, der die große Studie „Arrival-City“ über Verstädterung und die anschwellenden Ankunftsstädte für die großen Migrationsströme geschrieben hat. Hinzu kamen noch die Bürgerkriegsländer wie Libanon oder auch Jugoslawien.

Kritiker Ihres Buches fragen: Warum hat sie nicht eine Literaturgeschichte der englischsprachigen Commonwealth-Staaten und deren voranschreitender Globalisierung verfasst? Was sagen Sie denen? Warum beschränken Sie sich nicht darauf?

Das ist nicht mein Thema. Ich schreibe keine Literaturgeschichte. Ich versuche einen noch unbekannten literarischen Kontinent, der gerade auftaucht, vorläufig zu kartografieren. Das kann natürlich nur lückenhaft geschehen, anderes zu behaupten wäre größenwahnsinnig. Es ging mir um eine triftige Struktur, nicht um einen quantitativen Überblick.

Aber war große Literatur nicht immer schon in gewisser Weise Weltliteratur in dem Sinne, dass sie universell verstanden und lesbar sein musste? Warum „neu“ bei Ihnen?

taz.am wochenende

Panzer in der Ukraine, Militärputsch in Thailand, Anschläge in Nigeria. Alle reden vom Krieg. Aber worüber reden wir da eigentlich? Ein Essay des Sozialpsychologen Christian Schneider in der taz.am wochenende vom 24./25. Mai 2014. Außerdem: Wen bewegt Europa? Vier Portraits europäischer Wanderarbeiter zum Wahltag. Und: Von der DDR-Liedermacherin zur ZDF-Hundeflüsterin. Ein Gespräch mit Maike Maja Nowak. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Das Neue daran ist, dass es eine globale, nichtwestliche, postnationale Literatur ist, die aus bisher literaturfernen oder literarisch stummen Gegenden kommt.

Die gesamte Geschichte der Menschheit, gerade die nach Erfindung des Buchdrucks, war geprägt von Migrationen, Kriegen, Handel und Kolonisierung. Mario Vargas Llosa hat dies zum Beispiel 2010 in seinem Roman „Der Traum des Kelten“ thematisiert, einer Geschichte aus dem Zeitalter des klassischen Imperialismus, die in Irland, Kongo und Peru handelt. Solche Werke wie die gesamte neuere lateinamerikanische Literatur finden in Ihrem Buch keine Erwähnung. Gabriel García Márquez ist ihnen eine Fußnote wert. Warum?

Mein Thema ist die postkoloniale Literatur und nicht die Literatur, die noch einmal den Kolonialismus ins Auge fasst. Es geht um die Literatur in den Ländern, die unter den Nachwirkungen des Kolonialismus zu leiden haben. Gerade diese Länder, die mit dem Geburtstrauma ihrer Unabhängigkeit am meisten zu ringen haben, brachten bemerkenswerterweise auch die üppigste und interessanteste Literatur hervor, sprich Pakistan, Irak, Nigeria. Und dass diese Literatur noch nie in einem Kontext gesehen wurde, schien mir ein Manko, dem ich mit diesem Buch abhelfen wollte.

Gut, das Problem ist vielleicht der Titel „Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler“, darunter könnte man auch Autoren wie Roberto Bolaño fassen, den trieben seinen Wanderungen quer durch den lateinamerikanischen Kontinent, bis er auf der Flucht vor der chilenischen Diktatur schließlich 1977 in Spanien strandete. Warum ist Ihnen der Autor von „Die wilden Detektive“ oder „2666“ keine Erwähnung wert?

Muss ich’s noch einmal sagen?

Ja bitte.

Es ist nicht mein Thema! Mein Thema ist die globale Literatur aus Asien, aus Afrika und aus der Karibik.

Aber das steht halt nicht so auf dem Titel.

Ich könnte es auch globale Literatur nennen, mir geht es um Migrationsliteratur. Und dass nun jeder mit seinen Partikularkenntnissen daherkommt und sagt, warum kommt der chinesische Dichter Ping-Pong nicht vor, das habe ich fast erwartet. Das ist aber kleinlich und nörglerisch.

Ihr Interesse gilt vor allem Autoren und Autorinnen, die Sie als Sprachwechsler bezeichnen. Warum soll der Sprachwechsel für eine neue Erfahrung so wichtig sein und warum tut‘s nicht die schnöde Übersetzung? Der von Ihnen sehr geschätzte Autor Najem Wali schreibt ja auch im deutschen Exil weiterhin auf Arabisch.

Die Kritikerin und ihr Buch

Vor deutlichen Urteilen schreckt Sigrid Löffler nicht zurück. Günter Grass attestierte sie eine „Entkanonisierung zu Lebzeiten“, als Martin Mosebach der Büchnerpreis zuerkannt wurde, nannte sie ihn einen „Reaktionär“. Sigrid Löffler zählt zu den renommierten Literaturkritikern im deutschsprachigen Raum. Sie wurde 1942 in Aussig geboren, wuchs in Wien auf und studierte ebenda. Von 1996 bis 1999 war sie Feuilleton-Chefin der Zeit. Bis 2008 dann Herausgeberin der Zeitschrift Literaturen. Zwölf Jahre lang war sie zudem festes Mitglied des „Literarischen Quartetts“, bevor sie sich im Jahr 2000 in einem längst legendären Streit mit Marcel Reich-Ranicki von der Sendung trennte.

Sigrid Löfflers Buch „Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler" ist im Beck Verlag erschienen, München 2013. Es hat 344 Seiten und kostet 19,95 Euro.

Ja, der ist aber die Ausnahme. Die meisten dieser Autoren haben die Sprache gewechselt. Sie schreiben über die große Erfahrung ihres Lebens, nämlich die Migration, die Verstädterung, die Flucht, das Exil, die Ankunft in ihren Zufluchtsländern eben nicht in ihrer Muttersprache, nicht auf Urdu, Kikuyu oder Marathi, sondern auf Englisch, und wenn sie aus den frankofonen Kolonien Afrikas kommen, auf Französisch. Wir haben es hier also mit Autoren zu tun, die nicht in ihrer Muttersprache schreiben, sondern die Sprache ihrer ehemaligen Kolonialherren zu ihrer Literatursprache gemacht haben und sie im Prozess der Aneignung verändern und anreichern, indem sie mit ihrem ganzen kulturellen Gepäck in die Kolonialsprache einwandern und sie kreolisieren. Kommunizieren bedeutet nach George Steiner übersetzen – und diese kulturelle Vermittlung interessiert mich als Kritiker besonders.

Aber es gibt ja auch Autoren wie Rodrigo Rey Rosa, der über Guatemala eine Verknüpfung mit Marokko vornimmt und auch ohne einen Sprachwechsel ins Englische Peripherien verknüpft und in das Zentrum neuer Erzählung rückt.

Sorry, aber Lateinamerika ist nicht das Thema meines Buches.

Sie schreiben an einer Stelle Ihres Buches, „Englisch ist eine besonders demokratische Sprache“. Müsste es nicht eher heißen, die USA oder Großbritannien sind besonders demokratisch entwickelte Gesellschaften? Wie soll denn eine Sprache an sich demokratischer als die andere sein?

Das ist nicht meine Aussage, ich zitiere hier den bosnischen Autor Aleksandar Hemon, der in Chicago lebt und nicht mehr auf Bosnisch, sondern auf Englisch schreibt. Der hat mehrfach beschrieben, wie schwierig dieser Sprachwechsel war. Er hält Englisch für besonders demokratisch, weil man sich dieser Sprache von allen Seiten her zugesellen könne.

Sie schreiben auch, dass England bis zur Ankunft der Migranten von 1948 „monokulturell“, „monochrom weiß“ gewesen sei, danach sei daraus „ein buntes Gemisch von Herkünften und Hautfarben“ geworden. Ist das nicht selber ein bisschen zu sehr von der Farbenlehre geprägt und vernachlässigt das nicht alle anderen Unterschiede der Herkunft, vor allem den der Klasse, die den Zugang zu Hoch- und Staatskulturen ja mitunter auch deutlich erschweren?

Mein Buch handelt genau von der migrantischen Erfahrung, vom „Dritten Raum“ zwischen Herkunft und Ankunft, von den Identitätskonflikten und Integrationsmühen der Zuwanderer, die zwischen Anpassungszwängen und Ausgrenzungen taumeln und in ihren Zufluchtsländern meist wegen ihrer Herkunft und ihrer Hautfarbe auf Ablehnung stoßen, siehe die Rassenkrawalle in den pakistanischen und bengalischen Zuwandererenklaven Londons unter der Regierung Thatcher und die rassistischen Ausschreitungen der British National Front.

Den Rassismus der früheren englischen Gesellschaft bestreitet hier niemand.

Inzwischen ist die Verwandlung Englands in eine multiethnische und multikulturelle Gesellschaft gelungen, in der die Hautfarbe keine Rolle mehr spielt und ethnische Mischungen fast die Regel sind, siehe die Kehrtwende unter Tony Blair mit seinem Slogan eines inklusiven Britannien, das die Zuwanderer als gleichberechtigte Briten akzeptiert. Die Literatur bildet diesen Prozess in allen Phasen ab, von Naipaul bis Zadie Smith.

Noch ein Wort zu Doug Saunders und den „Arrival Citys“. Wie hängen die Migrationen, vor allem auch Binnenmigrationen, und die Ankunftsstädte mit den neuen Literaturen zusammen?

Ich habe mich auf vier Ankunftsstädte konzentriert – außer London und New York auf Toronto und Mumbai. Deshalb, weil es zu diesen Städten bedeutende neue Großstadtromane gibt. Vor allem Mumbai, das frühere Bombay, ist ein Labor der Zukunft und als solches Schauplatz und Thema vieler Romane, von Kiran Nagarkar bis Jeet Thayil. Und Toronto ist das Modell einer klug organisierten Zuwandererstadt. Das ist auch Thema in Romanen von Michael Ondaatje oder David Bezmozgis, einem jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Über Lagos, Nairobi oder New Delhi gibt es leider noch keine Romane von vergleichbarer Qualität.

Aravind Adigas Roman „Der weiße Tiger“ spielt in Neu-Dehli und wurde im Jahr 2008 mit dem Booker-Prize ausgezeichnet.

Adiga habe ich außen vor gelassen – aus Qualitätsgründen.

Schade.

Das ist Unterhaltungsliteratur, die habe ich nicht aufgenommen.

Aber besteht nicht bei Ihrer Perspektive die Gefahr, dass man Autoren erst in den Blick bekommt, wenn sie ihre Herkunft besonders betonen und thematisch auch an diesem Stoff bleiben? Das ist doch kein Sprechen auf Augenhöhe, wenn ich immer erst mal die Herkunft und die Abstammung zum Ausgangspunkt der Erzählung machen muss.

Es sind die Autoren selbst, die ihre Migration, ihre Weltwanderung zum Thema machen, indem sie entweder den Fokus auf ihre Herkunftsländer legen, aus denen sie oftmals vertrieben wurden, oder von den Freuden und Leiden der Identitätsfindung in ihren Zufluchtsländern erzählen. Viele thematisieren das Dazwischen, den Transit, die Wurzellosigkeit, die diese nomadisierende Existenz mit sich bringt. Dazu gibt es eine Fülle von Literatur, die es wert ist, einmal vorgestellt zu werden.

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