piwik no script img

Kommentar WahlrechtMehr Abgeordnete, weniger Wähler

Christian Rath
Kommentar von Christian Rath

In Karlsruhe wird am Dienstag über das Wahlrecht verhandelt. Opposition und Tausende Bürger haben geklagt – und das Verfassungsgericht hat etwas gutzumachen.

Wenn Karlsruhe nun also die Überhangmandate beseitigen oder ausgleichen will, dann wäre das zu begrüßen. Bild: dapd

U nser Wahlrecht ist nicht perfekt, denn es gibt kein perfektes Wahlrecht. Deshalb ist die Heilserwartung, die mit der Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts am Dienstag verbunden ist, bedenklich. Wieder mal gilt die Entscheidung des Parlaments wenig und alle schauen auf Karlsruhe.

Doch selbst wenn die obersten Verfassungsrichter nun (übergangsweise) ein eigenes Wahlrecht für die nächste Bundeswahl 2013 vorgeben, würde es an der einen oder anderen Ecke haken. Es war deshalb ein Fehler, dass das Bundesverfassungsgericht 2009 eine relativ kleine Verzerrung (das so genannte negative Stimmgewicht) zum Anlass genommen hat, vom Bundestag eine Neuregelung zu fordern.

Die Richter hatten es zuvor nicht beanstandet und hätten es dabei belassen können. Wirklich besser ist das Wahlrecht auch nach der geforderten Korrektur nicht, weil es nun neue kleine Probleme gibt.

Nach einer Klage von SPD, Grünen und 3.000 Bürgern liegt das Wahlrecht nun schon wieder in Karlsruhe und diesmal geht es auch um eine relevantere Frage: die Überhangmandate. Sie entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate holt, als ihr proportional nach den Parteistimmen zustehen.

Bild: taz
CHRISTIAN RATH

ist rechtspolitischer Korrespondent der taz.

Großes Akzeptanzproblem

Überhangmandate können bei knappen Mehrheitsverhältnissen dazu führen, dass eine Kanzlerin zwar mehr Abgeordnete hinter sich hat als die Opposition, aber weniger Wähler. Das wäre keine kleine Wahlverzerrung, sondern ein großes Akzeptanzproblem.

Wenn Karlsruhe nun also die Überhangmandate beseitigen oder ausgleichen will, dann wäre das zu begrüßen. Einfacher wird das Wahlrecht zwar auch dann nicht. Aber wer das negative Stimmgewicht beanstandet, muss erst recht die Überhangmandate neutralisieren.

Zu hoffen ist aber auf ein einstimmiges Urteil, das auch Akzeptanz schafft. Eine Entscheidung wird erst in ein paar Monaten erwartet. Zuletzt hat das Bundesverfassungsgericht 1997 über die Überhangmandate geurteilt und eine Beseitigung mit 4 zu 4 Stimmen abgelehnt. Das war peinlich, weil die Richter exakt entsprechend ihrer mutmaßlichen Parteipräferenzen abstimmten. Sie haben also etwas gutzumachen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Christian Rath
Rechtspolitischer Korrespondent
Geboren 1965, Studium in Berlin und Freiburg, promovierter Jurist, Mitglied der Justizpressekonferenz Karlsruhe seit 1996 (zZt Vorstandsmitglied), Veröffentlichung: „Der Schiedsrichterstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts“ (2013).
Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • N
    Neu_hier

    Der Artikel ist an einigen Stellen schlicht ungenau und falsch.

     

    1) Es ist nicht möglich, dass durch die Überhangmandate ein Kanzler gewählt wird (oder eine gesetzgebende Parlamentsmehrheit) geschaffen wird, ohne dass eine Mehrheit an Wählerstimmen vorliegt. Was sie meinten, ist eine Mehrheit an Zweistimmenwähler - das ist ein Unterschied! Sieht man nämlich das Wahlrecht als ein Kompromiss zwischen Mehrheits- und Verhältniswahlrecht, dann stellt das von ihnen beschriebene Ereignis kein Gerechtigkeitsproblem dar.

     

    2) Wie sie bereits geschrieben haben, die Überhangmandate sind zuerst einmal verfassungskonform - sofern sie ein gewisses Maß nicht überschreiten. [Gemeinhinsieht man dieses Maß bei einer Verzerrung von über 5% als überschritten an.] Eine BVerfGE das dieses Urteil revidiert ist nicht zu erwarten, zumal nach dem neuen Wahlrecht die Zahl der Überhangmandate in der Tendenz reduziert wird. Kurzum: Wenn Überhangmandate nach dem alten Wahlrecht legal gewesen sind, werden sie es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch bei diesem Wahlrecht sein.

     

    3) Sehr wahrscheinlich ist, dass auch bei dem kommenden Urteil ein Effekt kritisiert wird, der dem negativen Stimmengewicht sehr ähnlich ist. Wahrscheinlich wird das BVerfG eine Übergangsbestimmung erlassen, die solange gilt bis ein neues Wahlrecht geschaffen worden ist. Da es nur einer relativ kleinen Korrektur beim neuen Wahlrecht bedarf (die Sitzverteilung auf die Länder darf sich nicht erst durch die Wahl an sich ergeben, sondern muss "fest" sein), wird es wohl nicht lange dauern bis die Korrektur vorgenommen worden ist. Aller Voraussicht nach, wird dann wohl wieder geklagt werden - wie die Entscheidung dann aussieht weiß wohl keiner, ich vermute das die Chancen ein Stück weit niedriger sind (es könnte aber auch sein, dass die Zuteilungsreihenfolge beim neuen Wahlrecht moniert wird, dann müsste ein komplett neues Wahlrecht her).

     

    4. Überhangmandate und negatives Stimmengewicht sind zwei unterschiedliche Dinge. Externe Überhangmandate zum Beispiel haben rein gar nichts mit dem "inversen Erfolgswert/Stimmengewicht" (das ist eigentlich die korrekte Bezeichnung und nicht "negatives Stimmengewicht") zu tun. Es sind die internen Überhangmandate die zum inversen Erfolgswert/Stimmengewicht führen. Und selbst das muss nicht zwingend sein, wie bereits erwähnt: Eine fester Zuteilungsschlüssel beim aktuellen Wahlrecht würde interne Überhangmandate ermöglichen ohne einen inversen erfolgswert mit sich zu bringen.

  • K
    kleinalex

    2 Kritikpunkte zum Artikel:

     

    1.) Das negative Stimmgewicht ist ganz sicher keine geringfügige Störung - wenn ein Wähler nicht weiß, wo er sein Kreuzchen machen muss, um seine Partei, seinen Abgeordneten, seine Meinung zu unterstützen, dann gibt es dazu vieles zu sagen, nur eines ganz sicher nicht: 'Demokratie'.

    Bei wievielen Nicht-Wählern hat das Bewusstsein um das negative Stimmgewicht mit zu der Nicht-Wählen-Geh-Entscheidung beigetragen? Wieviele Menschen zweifeln daran, dass es überhaupt Sinn macht, Wählen zu gehen, weil ihre Stimme ja sogar ins Gegenteil verkehrt werden kann? Wieviele haben gewählt und grübeln hinterher, ob sie ihr Kreuz wirklich an der richtigen Stelle gemacht haben? Wieviele haben gegen ihre Überzeugung gewählt im Irrglauben, dass das negative Stimmgewicht sich bei ihnen auswirken würde?

     

    Niemand kann diese Fragen beantworten, aber allein dass man sie stellen muss, beschädigt bereits die Demokratie.

     

    Und im Maß der Beeinträchtigung der Demokratie unterscheidet sich das negative Stimmgewicht kein kleines bißchen von "Regierung mit Mehrheit der Sitze, aber nicht Mehrheit der Wählerstimmen" - beides führt dazu, dass Wähler das Vertrauen in die Demokratie verlieren.

     

    2.) Unangemessen erscheint mir die Kritik am 2009er Urteil des Bundesverfassungsgerichts bzgl. des negativen Stimmgewichts.

    Das BVerfG hat damals unmissverständlich in sein Urteil geschrieben, dass das negative Stimmgewicht 'untrennbar' mit der Problematik der Überhangmandate verbunden ist, und hat dem Bundestag aufgetragen, das Wahlrecht so zu reformieren, dass das Endergebnis ein Verfassungskonformes wird. Es hat dazu verschiedene Möglichkeiten angesprochen. Aber es wollte sich erfreulicherweise nicht allzu extrem in den genauen Aufbau des Wahlrechts einmischen, sondern hat dies dem Parlament überlassen; es gab zu diesem Zweck eine lange Frist und viele Hinweise auf mögliche Änderungen.

     

    Nun hat das Parlament entschieden - und zwar für die zynischeren unter uns 'erwartungsgemäß' - die sehr großzügig bemessene Frist nicht zur Schaffung eines ordentlichen Wahlrechts zu nutzen. Stattdessen wurde auf letzten Drücker und ohne parteiübergreifenden Konsens im Parlament ein Wahlrecht beschlossen, dass noch deutlicher neben den Mindestanforderungen liegt als das vorherige: Das negative Stimmgewicht wurde nicht nur nicht eingeschränkt, sondern sogar noch ausgeweitet.

     

    Was aber hätte denn das Verfassungsgericht 2009 alternativ tun können? Sich selbst zum Gesetzgeber ernennen und ein vollständig Verfassungskonformes Wahlgesetz diktieren? Oder vielleicht doch besser darauf hoffen, dass das Parlament sich wenigstens in dieser Sache einmal vorrübergehen von seinen Verfassungsfeindlichen Tendenzen lösen wird, um ein ordentliches Wahlrecht zu beschließen.

     

    Meiner Meinung nach hat das BVerfG, als es damals dem Bundestag zu vertrauen beschlossen hat, exakt das getan, was seine primäre Aufgabe ist: Gesetze kontrollieren, aber nicht selber machen.

    Sicherlich konnte man vorhersagen, dass das schiefgehen würde - aber dennoch ist das Regieren nun einmal nicht Aufgabe eines Verfassungsgerichts.