Kommentar Syrien: Syriens Regime fällt nur Gewalt ein
Jeder Tote, jeder Gefangene polarisiert die syrische Gesellschaft weiter. Und inzwischen hat der Protest aus den ländlichen Regionen die Großstädte erreicht.
F olter und andere Menschenrechtsverletzungen gehören zur politischen Landschaft Syriens wie die militärische Gewalt gegen Protestbewegungen. Und das schon seit vierzig Jahren.
Das Regime unter Baschar al-Assad, der seit 2000 an der Macht ist, verweigerte jede politische Öffnung und jede Reform. Oppositionelle verschwanden für Jahre hinter Gittern. Dennoch war der politische Dissens unter ihnen gerade im vergangenen Jahrzehnt einfach nicht wegzukriegen. Dann kamen die arabischen Revolutionen.
Und da zeigte sich, wie sehr das Regime sich eingebunkert hat und nicht in der Lage war, die Zeichen der neuen Rebellion zu verstehen. Die ersten Proteste in Daraa im Süden des Landes oder in den Küstenstädten wurden als isolierte Ereignisse angesehen, die es im lokalen Rahmen zu "lösen" galt. Die Machthaber in Damaskus vermochten auch nicht, ihre Gegner zu identifizieren, die wechselweise als "bewaffnete Banden", vom Ausland unterstützt oder radikale Islamisten bezeichnet wurden.
BEATE SEEL ist Nahost-Expertin im Auslandsressort der taz.
Vor allem aber rächte es sich, dass das Regime seine ursprüngliche ländliche Basis vernachlässigte und damit auch die herrschende Baath-Partei schwächte, die eine Art Transmissionsriemen zwischen der Zentrale und den Regionen darstellte. Stattdessen vergaben die Machthaber wichtige Funktionen in Politik, Militär, Geheimdiensten und der Wirtschaft innerhalb des eigenen, vorwiegend alewitischen Klans.
Die unter Baschar al-Assad eingeleitete Politik der wirtschaftlichen Öffnung verstärkte diesen Trend nur, da vor allem die großen Städte von der Liberalisierung profitierten. Die ländlichen Regionen wurden zunehmend einem korrupten Apparat und arroganten Sicherheitskräften überlassen.
Inzwischen hat die syrische Protestbewegung, die - wenig verwunderlich - in ländlichen Regionen begann, längst die großen Städte Latakia, Homs, Hama und Aleppo erreicht. Es gibt eben viele gute Gründe, für Reformen oder einen Sturz des Regimes einzutreten.
Wenn das Regime und einige "unabhängige" Politiker nun ihrerseits mit Vorschlägen für eine Verfassungsreform aufwarten, geschieht das unter dem nicht nachlassenden Druck der Straße. Doch jeder Tote, jeder Gefangene polarisiert die Gesellschaft weiter. Für Assads Vater Hafiz übrigens war der Preis von geschätzten 20.000 Toten in Hama 1982 nicht zu hoch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands