Kommentar Gauck: Gauck und der Holocaust
Was der künftige Bundespräsident wirklich gesagt und was er gemeint hat. Und wie er den Holocaust verharmlost. Eine Antwort auf die Kritik an der Gauck-Kritik.
E r lehne das Internet ab, hat Flaubert einmal gesagt, weil es nur noch mehr Leuten erlaube, zusammenzukommen, um zusammen dumm zu sein. Okay, Flaubert hat das über etwas anderes, nämlich über die Eisenbahn gesagt. Aber wer um die Mechanismen von Onlinedebatten weiß, wird nicht völlig bestreiten, dass man diesen Befund aufs Internet übertragen kann. Dem zustimmen dürften auch die Beteiligten der Diskussion um tatsächliche oder vermeintliche Aussagen von Joachim Gauck.
Einer dieser Beteiligten ist Sascha Lobo, der mir auf Spiegel-Online vorgeworfen hat, ich hätte in meiner Kolumne auf "unredliche Weise" ein Zitat von Gauck aus dem Zusammenhang gerissen und die eigentliche Aussage ins Gegenteil verkehrt. Andernorts schrumpft diese – an mich oder andere gerichtete – Kritik zu der Floskel, mit der sich noch jeder, der bei irgendeiner unglücklichen Bemerkung ertappt wurde, aus der Affäre zu ziehen versucht hat: "Das Zitat ist aus dem Zusammenhang gerissen!"
Da der kleine Disput zwischen Lobo und mir pars pro toto für die ganze Debatte steht, sei anhand dieses Beispiels und anhand eines besonders heiklen Themas – der Einordnung des Holocausts – eine ausführliche Replik gestattet.
Nun, und das vorneweg, ein Zitat ist immer aus dem Kontext gerissen. Entscheidend ist allein, ob es sinnentstellend wiedergegeben wird. Im Netz werden Zitate oft entstellt und Journalisten tragen das Ihrige dazu bei – mit dieser sensationellen Beobachtung hat Lobo natürlich recht und gewiss ist er selbst noch nie einem Twittergerücht aufgesessen.
Text und Kontext
Zum Kontext eines Zitates aber gehört mehr als nur die Sätze, die ihm vorangehen oder nachfolgen; das unterscheidet einen Text ja von einer Büchse Ölsardinen. Und einen Text zu kontextualisieren bedeutet, ihn zu deuten: Wer sagt was in welcher Form an welcher Stelle zu welchem Zweck zu welchen Leuten, die ihn wie verstehen können oder sollen?
ist Redakteur bei taz.de.
Doch bevor ich darauf zurückkomme, will ich Sascha Lobo einen Gefallen tun, extrem hohe Online-Kompetenz zeigen und die fragliche Passage – sie stammt aus einem Vortrag, den Gauck im März 2006 vor der Robert-Bosch-Stiftung gehalten hat – so ausführlich wie möglich zitieren:
"Unübersehbar gibt es eine Tendenz der Entweltlichung des Holocausts. Das geschieht dann, wenn das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine Einzigartigkeit überhöht wird, die letztlich dem Verstehen und der Analyse entzogen ist. Offensichtlich suchen bestimmte Milieus postreligiöser Gesellschaften nach der Dimension der Absolutheit, nach dem Element des Erschauerns vor dem Unsagbaren. Da dem Nichtreligiösen das Summum Bonum – Gott – fehlt, tritt an dessen Stelle das absolute Böse, das den Betrachter erschauern lässt.
Das ist paradoxerweise ein psychischer Gewinn, der zudem noch einen weiteren Vorteil hat: Wer das Koordinatensystem religiöser Sinngebung verloren hat und unter einer gewissen Orientierungslosigkeit der Moderne litt, der gewann mit der Orientierung auf den Holocaust so etwas wie einen negativen Tiefpunkt (…) Würde der Holocaust aber in einer unheiligen Sakralität auf eine quasireligiöse Ebene entschwinden, wäre er vom Betrachter nur noch zu verdammen und zu verfluchen, nicht aber zu analysieren, zu erkennen und zu beschreiben. Wir würden nicht begreifen."
Wenn Gauck wirklich nur, wie Lobo glaubt, damit "meinte, dass es gefährlich sei, so zu tun, als könne sich ein Holocaust sowieso nie wieder ereignen und man daher gar nicht besonders erinnern, analysieren, aufarbeiten müsse", an wen richtete Gauck dann diesen Appell? Wer, außer ein paar Nazis und Islamisten, hätte da widersprochen?
Und selbst wenn er das gemeint hat, warum hat er es nicht so gesagt? Eine wohlwollende Antwort: Dieser Appell kam ihm intellektuell zu dürftig vor, weshalb er das Ganze etwas aufpeppen wollte – so wie manch einer "das Wetter ist von Regen geprägt" sagt, weil das bedeutungsvoller klingt als ein schlichtes "Es regnet".
Verklemmter Dirty Talk
Doch wieso landet Gauck dann ausgerechnet bei der Formulierung von der Überhöhung des Holocausts? Weil er genau das will. Weil er genau diese, in Deutschland so beliebte Form des Tabubruchs bedienen will: das Prinzip des schmierig-verklemmten dirty talks. Mit demselben Trick ist – wenngleich in einem eher harmlosen Zusammenhang – ein anderer Wendehals berühmt geworden: Jeder weiß, wo genau der Erwin die Heidi anfasst und was sich auf "Schritten" reimt, man muss es nicht eigens sagen.
Dieser Trick funktioniert auch in politischen Diskussionen: Ich werfe einen Begriff in den Raum, um ihn hernach verdruckst zurückzunehmen. Aber das Wort, auf das es ankommt, ist ausgesprochen oder angedeutet, auf jeden Fall gesagt und beim Publikum angekommen. Der Rest ist Kopfkino.
Doch Gauck hat noch mehr zu bieten. Der Holocaust, meint er, ist eine Ersatzreligion der Gottlosen. Damit stellt er sich in die Tradition von Leuten, die ein Leben und Denken ohne Gott für unvorstellbar halten und den Nationalsozialismus gerne für ein Produkt der Gottlosigkeit halten, anstatt darin auch das in Ideologie wie Praxis modernisierte und radikalisierte Ergebnis des christlichen Antijudaismus zu erkennen: "Wenn der Zweckrationalität der jeweiligen Macht keine moralischen Gegenkräfte entgegenstehen, die das Zivilisatorische an der Zivilisation schützen, ist eine Gefahr in Verzug, die zu Katastrophen wie den Holocaust führen kann."
Unbestreitbar ist der Holocaust ein Produkt der Moderne. Um ihn aber als beispiellosen – und nur bis zu einem gewissen Punkt rational erklärbaren – Zivilisationsbruch zu erkennen, bedarf es jedoch ebenfalls der erkenntnistheoretischen Instrumentarien der Aufklärung. Gauck macht das Gegenteil: Er projiziert, wie Clemens Heni zutreffend schreibt, "seine Religiosität auf diejenigen, welche den Holocaust überhaupt als spezifisches, präzedenzloses Menschheitsverbrechen erinnern".
Dabei ist die Rede von der "Ersatzreligion Auschwitz" weder sonderlich deutsch noch sonderlich klerikal. Immer aber ist sie, ob im Munde eines Neuen Rechten, Linken oder sonst wem, Ausdruck eines Antisemitismus der nicht trotz, sondern wegen Auschwitz argumentiert. Oft in Form des an Juden oder Israelis gerichteten Vorwurfs, aus Auschwitz Profit zu schlagen; bei Gauck als unterstellter "psychischer Gewinn".
Aber indem er von einer "Überhöhung" des Holocausts zu einem quasireligiösen Akt spricht, spricht er der Shoah die Singularität als ebenso wahnhaften wie systematischen Massenmord an Millionen Juden ab. Einfach ausgedrückt lautet sein Gedankengang: Ja, es gab den Holocaust, wir wollen ihn nicht vergessen, aber bitteschön nicht übertreiben und die Kirche im mecklenburgischen Dorf lassen.
Dieses Bedürfnis nach Schuldabwehr hat Gauck schon etliche Male demonstriert, allen voran mit seiner permanenten Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus, autoritäre Regimes wie das der DDR eingeschlossen.
"Wer", so schreibt er im Nachwort zur deutschen Ausgabe des "Schwarzbuchs des Kommunismus", nachdem er auf die Unterscheide in der Ideologie und den Staatsformen hingewiesen hat, "die konkrete Herrschaftstechnik vergleicht, die dienstbare Rolle des Rechts und den permanenten Einsatz von Terror, der findet genauso Ähnlichkeiten wie bei der Untersuchung der Folgen staatsterroristischer Herrschaft auf die Bürger."
Nazis und Stalinos
Doch der Nationalsozialismus hat nicht nur – so wie der sowjetische Stalinismus oder der italienische Faschismus – Oppositionelle drangsaliert und ermordet. Das Besondere war, dass er einen Teil seiner Bürger (und später einen Teil der Unterworfenen in den besetzten Gebieten) aller Bürger- und Menschenrechte beraubte, ehe er sie industriell ermordete. Zwischen 1933 und 1945 entsolidarisierten sich die meisten deutschen Bürger von ihren jüdischen Nachbarn, untereinander aber kuschelten sie sich zur Volksgemeinschaft zusammen.
All das macht Gauck noch nicht zum Antisemiten, und gewiss wird er keiner sein wollen. In der Sache aber betreibt er eine Verharmlosung des Holocausts.
So außergewöhnlich ist seine Sicht auf die Dinge freilich nicht, sie bewegt sich auf Höhe des relativistischen Diskurses, wie er bis in die frühen neunziger Jahre unter westdeutschen Konservativen vorherrschte ("der Ivan ist genauso schlimm"); ergänzt um eine spezifische, ostdeutsche Sicht ("wir hatten es auch ganz schlimm") und um eine pfäffische Note ("sowas kommt von sowas").
Kurz: Es ist ein reaktionärer Stinkstiefel, der demnächst Bundespräsident dieses Landes werden wird. Aber er ist sicher nicht der erste und wird vermutlich nicht der letzte bleiben.
Update: Die Debatte geht weiter.
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