Kommentar Abtreibungsverbot in der Türkei: Rückschritt per Dekret
Es soll wieder verboten werden, was fast 30 Jahre legal war. Noch ist das de facto-Verbot von Abtreibungen in der Türkei nicht durch. Widerstand wird schwierig werden.
W as in anderen Ländern Gegenstand jahrejanger, ja manchmal sogar jahrzehntelanger Debatten ist, geht in der Türkei ganz schnell. Kaum hat der unumschränkte Alleinherrscher Recep Tayyip Erdogan die Losung ausgegeben, Abtreibung sei Mord, hat sein Gesundheitsminister schon wenige Tage später einen Gesetzentwurf in der Mache, der ein de facto-Verbot von Abtreibungen vorsehen soll.
Es wäre ein tiefgreifender gesellschaftlicher Rückschritt, per Federstrich erledigt. Noch ist es nicht ganz soweit, der gesellschaftliche Widerstand beginnt sich zu formieren, doch die Chancen stehen schlecht. Wenn Erdogan etwas durchsetzen will, das zeigen viele Beispiele aus der Vergangenheit, lässt er sich von Protesten, zumal aus dem säkularen, westlich orientierten Lager der Gesellschaft, schwerlich beeindrucken.
Die Frage der Zulässigkeit von Abtreibung zeigt wie unter einem Brennglas, wie schlecht es in der Türkei nach wie vor um demokratische Prozesse bestellt ist, ganz besonders wenn es um die Rolle der Frau in der Gesellschaft geht. Die Zulassung von Abtreibungen bis zur zehnten Woche wurde 1983 gesetzlich festgeschrieben – nicht etwa nach langen Debatten, sondern von den damaligen Militärs, die sich im September 1980 an die Macht geputscht hatten, per Anordnung verfügt. Genauso soll es jetzt wieder laufen, nur mit dem gegenteiligen Ziel.
ist Türkei-Korrespondent der taz in Istanbul.
Ohne dass Abtreibungen zuvor überhaupt eine Thema gewesen wären, entdeckt Erdogan plötzlich, dass Schwangerschaftsunterbrechungen einem Mord gleichkommen und außerdem die Türkei schwächen, weil dadurch das Bevölkerungswachstum dezimiert würde. Plötzlich soll wieder verboten werden, was fast 30 Jahre legal war und zu keinerlei moralischen oder medizinischen Problemen geführt hat.
Auf dem Rücken der Frauen, denen nicht nur das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper genommen werden soll, sondern die, wenn sie in Not sind, in die Illegalität getrieben werden, will Erdogan seine konservative männliche Kernklientel bedienen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen