piwik no script img

Israelischer Film „Die Wohnung“Die dritte Generation

Arnon Goldfinger räumt die Tel Aviver Wohnung seiner toten Großmutter. Im Nachlass entdeckt er eine Verbindung zu einem Nazipaar und dreht einen Film: „Die Wohnung“.

Kurt & Gerda Tuchler & Gerda von Mildenstein auf dem Schiff nach Palästina. Bild: promo

In Tel Aviv ist ein Bücherschatz gehoben worden. Shakespeare, Goethe, Schiller, Nietzsche, Balzac in schönen, alten Ausgaben, dazwischen eine „Geschichte des jüdischen Volkes in der nachbiblischen Zeit“. Ein kundiger Mann nimmt einen Band nach dem anderen in die Hand, er prüft sie auf ihren Wert auf einem Markt, auf dem seltsame Kriterien zählen.

Denn amerikanische Kunden kaufen alte Bücher nach Regalmeter, sie wollen nur den ehrwürdigen Anschein von Kultur, lesen würden sie die Klassiker niemals. Und überhaupt, wer liest heute noch Goethe? Nietzsche vielleicht, aber nicht in dieser alten Schrift.

Der Bücherschatz, den Gerda Tuchler hinterlassen hat, ist also nicht viel wert. Und auch darüber hinaus erweist sich ihr Nachlass eher als Belastung denn als Vermächtnis. Über viele Jahre hat sie in Tel Aviv eine Enklave deutscher Kultur gehütet. Sie hat sich mit den Dingen jener Welt umgeben, die sie verlassen musste, als in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Ihre Enkel und Urenkel, die nach ihrem Tod die Kleiderschränke ausräumen, müssen lachen, als sie einen Fuchspelz entdecken, wie man ihn heute kaum mehr tragen würden. In den Filmen einer anderen Epoche war das einmal der letzte Schrei.

Eine Kamera ist auch dabei, als die Besitztümer von Gerda Tuchler in Augenschein genommen werden. Denn einer ihrer Enkel dreht einen Film, der von diesem Nachlass seinen Ausgang nimmt: Arnon Goldfinger interessiert sich für die Geschichte, die darin erkennbar wird. Er stellt die Fragen, die in seiner Familie nicht gestellt wurden. Für ihn ist die Wohnung nicht ein Raum, der zu leeren ist, sondern eine unerschöpfliche Quelle von Material, und so ist es nur konsequent, wenn er auch seinen Film so genannt hat: „Die Wohnung“.

Privater Ausschnitt aus dem Weltgeschehen

Eine Wohnung ist eine Welt, ein Stück Geschichte zwischen vier Wänden, ein privater Ausschnitt aus dem Weltgeschehen. Und im Falle von Gerda und ihrem viele Jahre früher verstorbenen Mann Kurt Tuchler gab es einen entscheidenden Berührungspunkt mit dem Weltgeschehen. Sie mussten Deutschland verlassen, weil sie als Juden im Nationalsozialismus viele ihrer bürgerlichen Rechte verloren hatten. Der Verkehrsrichter Kurt Tuchler, „deutscher Patriot und glühender Zionist“ zugleich, zog mit seiner Frau Gerda nach Tel Aviv. Das Paar ließ sich auch nach dem Krieg und nach dem Holocaust nicht von seiner Zuneigung zur deutschen Kultur abbringen.

Dieser Widerspruch hatte auch eine persönliche Dimension. Denn die Tuchlers waren, wie aus vielen Briefen und Fotografien in der Wohnung hervorgeht, eng befreundet mit einem deutschen Paar, den Mildensteins, mit denen sie 1933 eine Reise nach Palästina unternahmen, die Leopold von Mildenstein später zum Gegenstand einer Artikelserie und eines Buchs machte. Die Artikel erschienen im Angriff, einem Kampfblatt der Nazis.

Sie verweisen darauf, dass in dieser frühen Phase der nationalsozialistischen Politik noch eine Möglichkeit bestand, als Nazi Zionist zu sein. Auswanderung als Lösungsansatz für die „Judenfrage“ schien für Mildenstein eine plausible Idee zu sein. Wenig später trennten sich die Wege der Tuchlers, die nach Tel Aviv gingen, und der Mildensteins, die in Deutschland blieben.

Anstößige Freundschaft

Doch die Verbindung riss nicht ab, im Gegenteil wurde die Freundschaft nach dem Krieg wieder aufgenommen. Die Tuchlers reisten nach Deutschland, man traf sich in Wuppertal, über die Aktivitäten des früheren SS-Mannes Mildenstein während des Krieges wurde allem Anschein nach nicht gesprochen. Für Arnon Goldfinger wird diese Tatsache zum Anlass einer Recherche, die wir in dem Film „Die Wohnung“ mitverfolgen können.

Er öffnet die Alben, die ohne sein Eingreifen möglicherweise unbeachtet an einen Altwarenhändler gegangen wären (in einer Szene des Films sehen wir, wie mögliche Preise für den Gesamtbestand der Wohnung ausgerufen werden: 500 Schekel bietet einer, ein anderer das Doppelte). Er möchte hinter das Geheimnis dieser anstößigen Freundschaft kommen, und so macht er sich auf den Weg nach Deutschland, wo er auf Edda von Mildenstein trifft, die Tochter des Edlen von Mildenstein, die ihn mit offenen Armen empfängt.

Doch dann kühlt das Verhältnis allmählich ab, auch wenn Goldfinger weiterhin mehrmals zu Gast sein darf, einmal sogar mit seiner Mutter, die in vielerlei Hinsicht die eigentliche Schlüsselfigur dieses Films ist. Denn sie vertritt in der Erinnerungsfolge, um die es hier in einem sehr repräsentativen Sinn geht, die zweite Generation der Erben der Schoah.

Staub wirbelt auf

Diese zweite Generation hat sich vielfach dadurch ausgezeichnet, dass sie das Schweigen der Überlebenden nicht brechen wollte. Erst die dritte Generation, der Arnon Goldfinger angehört, beginnt die Fragen zu stellen, von denen „Die Wohnung“ erzählt. Sein Film kommt zu spät, um noch mit Zeitzeugen persönlich sprechen zu können. Stattdessen handelt er von dem Umgang der Nachgeborenen mit den Wahrheiten der Epoche.

Er zeigt, wie Goldfingers Mutter, die in den Briefen der Mildensteins das kleine „Hannahlein“ genannt wird, sich unter Anleitung des Sohns allmählich für die Familiengeschichte öffnet. Er zeigt, welcher Reichtum an Dokumenten in privaten Haushalten immer noch verborgen liegt, aber auch, wie die Erben von den Nachlassmassen überfordert sind.

Vor dem größeren Hintergrund der jüdisch-israelisch-deutschen Geschichte lässt sich Goldfingers Position genauer akzentuieren. Denn der Begriff der „dritten Generation“, der im Film einmal ausdrücklich und leitmotivisch genannt wird, hat in unterschiedlichen Kontexten ja unterschiedliche Facetten.

In Israel steht er vielfach für die neuen, komplizierten Realitäten des Nahen Ostens, in dem die wiederkehrende Bezugnahme auf die Schoah zu einem politischen Problem werden kann, wie die Theatermacherin Yael Ronen in ihrem Stück „Die dritte Generation“ programmatisch herausgearbeitet hat. Zugleich verstärkt sich mit der historischen Distanz eine Sehnsucht nach authentischen Erinnerungsmomenten, nach einer „Erinnerung aus zweiter Hand“, wie sie in den Dokumenten der Tuchlers auffindbar ist.

Keinen „Persilschein“

Goldfinger verfolgt die Familiengeschichte schließlich so weit zurück, bis er zu den Toten gelangt, von denen er davor nichts gehört hatte. Dass eine Urgroßmutter 1942 im Ghetto von Riga ums Leben kam, muss nun in ein Verhältnis gebracht werden zu den Aktivitäten von Leopold von Mildenstein während des Kriegs. Dass er tatsächlich „unbescholten“ blieb, will jedenfalls seine Tochter Edda fest glauben, während zwischendurch immerhin zu erfahren ist, dass Kurt Tuchler dem Freund nach dem Krieg keinen „Persilschein“ auszustellen bereit war.

So zeigt der Film „Die Wohnung“ stellvertretend für seine Generation (Arnon Goldfinger ist Jahrgang 1963) eine markante Spannung auf: Die Versöhnung zwischen Deutschland und Israel, zwischen deutscher und jüdischer Kultur, wie die Tuchlers und Mildensteins sie nach dem Zweiten Weltkrieg anscheinend problemlos vollzogen hatten, steht immer unter dem Vorbehalt von beschwiegenen Wahrheiten.

Arnon Goldfinger stört den Frieden, weil er wissen möchte, was genau Leopold von Mildenstein zwischen 1937 und 1945 getan hatte. Das Bild, mit dem „Die Wohnung“ beginnt, behält seine Signalwirkung: Jemand zieht die Jalousien hoch, lässt Licht in die Wohnung fallen und wirbelt dabei auch den Staub auf, der nun erst sichtbar wird. Durch die Objektwelt hindurch versucht dieser Film noch einmal zu der persönlichen Betroffenheit vorzudringen, die sich hinter den Äußerlichkeiten verbirgt.

Im Grunde zeigt schon der Unterschied, der zwischen der Wohnung der Großmutter und der der Mutter sichtbar wird, von den entscheidenden Stadien der Verarbeitung historischer Erfahrungen. Diese Unterschiede bringt Arnon Goldfinger dann auch noch ausdrücklich zum Sprechen, indem er seine Mutter aus dem Schweigen erlöst.

„Die Wohnung“. Regie: Arnon Goldfinger. Dokumentarfilm, Deutschland/Israel 2011, 97 Min.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!