Geheimes Verfassungsschutzdossier: Chronologie des Versagens
Pannen bei der Suche nach den Naziterroristen: Obwohl Behörden mutmaßliche Helfer vom "Thüringer Heimatschutz" und von "Blood & Honour" überwachten, blieb das Trio unentdeckt.
BERLIN taz | "Fall Terzett" hatte der sächsische Verfassungsschutz die Überwachungsoperation von März bis Oktober 2000 getauft. Der Geheimdienst des Freistaates nahm damals drei Männer und eine Frau ins Visier. Der Verdacht: Diese könnten die zwei Jahre zuvor abgetauchten Neonazis Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe im Untergrund unterstützen: Das "Terzett".
So steht es in einem als geheim eingestuften Bericht des Bundesamts für Verfassungsschutz, der der taz vorliegt. Er ist eine Auflistung aller Überwachungsmaßnahmen, die im Zusammenhang mit den Rechtsterroristen vom "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) zwischen 1998 und 2002 stattgefunden haben – und gleichzeitig eine Chronologie des Scheiterns der Sicherheitsbehörden.
Jan W., einer aus der im Jahr 2000 überwachten Vierergruppe, soll schon 1998 laut der Aussage eines V-Mannes den Auftrag bekommen haben, die von der Polizei gesuchten Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe im Untergrund mit Waffen zu versorgen. Jan W. und die anderen beiden im Jahr 2000 überwachten Männer im "Fall Terzett" waren Aktivisten der Sektion Sachsen des militanten, internationalen Neonazinetzwerks "Blood & Honour".
Die vierte Person, die die Behörden im Jahr 2000 ins Visier nahmen war: Mandy S., jene Rechtsextremistin, deren Namen Beate Zschäpe dann als eine ihrer Tarnidentitäten im Untergrund verwendet haben soll. Sowohl Jan W. als auch Mandy S. werden heute von der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe als Beschuldigte geführt. Sie stehen unter Verdacht, die Terrorgruppe NSU unterstützt zu haben, in Untersuchungshaft sitzen sie allerdings nicht.
Richtige Spur, keine Konsequenz
Das beunruhigende Bild, das sich aus dem Geheimgutachten des Verfassungsschutzes ergibt, ist Folgendes: Die Sicherheitsbehörden waren durchaus auf der richtigen Spur, gingen dieser offenbar aber nicht in letzter Konsequenz nach. Das Trio aufzuspüren und festzunehmen gelang ihnen jedenfalls nicht, trotz der zahlreichen Hinweise, die sie über Verbindungen von Aktivisten des "Thüringer Heimatschutzes" und aus dem "Blood & Honour"-Netzwerk zu den drei Untergetauchten hatten.
Verfassungschutzbehörden und Landeskriminalämter mehrerer Bundesländer, das Bundesamt für Verfassungsschutz, der Militärische Abschirmdienst, mehrere V-Leute - sie alle tauchen in der amtlichen, geheimgehaltenen Chronologie der gescheiterten Suche nach Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe auf.
Doch niemand hat die Puzzleteile richtig zusammengesetzt. Warum nicht, das wird unter anderem der Untersuchungsausschuss des Bundestags aufklären müssen, der an diesem Freitag die Arbeit aufgenommen hat.
Genauer anschauen werden die Aufklärer sich dann auch die Vorgänge im Frühherbst 2000. Damals, so hat es inzwischen auch der sächsische Innenminister in einem internen Bericht bestätigt, war die Polizei ganz nah dran an einer Festnahme.
Bernhardstraße 11
Schon länger hatten die Behörden Hinweise, dass Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe in Chemnitz untergetaucht sein sollen. Die Überwachungsmaßnahmen im "Fall Terzett" führen sie schließlich zu einer Wohnung in der Bernhardstraße 11: der von Mandy S. Das Thüringer Landeskriminalamt – zuständig für die Zielfahndung nach dem Trio - hatte einen Hinweis bekommen: Böhnhardt könnte am 30. September hier zu einer Geburtstagsparty aufkreuzen.
Tatsächlich erschienen schon einen Tag vorher zwei Gestalten an dem Haus in Chemnitz. Auf einem Video des sächsischen Verfassungsschutzes erkannten Beamte aber erst ein paar Tage später Böhnhardt und Zschäpe. Am 29. September stand gegenüber der Bernhardstraße nur eine Kamera "ohne Mannbesatzung", zum Zeitpunkt der Videoauswertung waren die Neonazis schon längst wieder abgetaucht.
Merkwürdig ist, dass die Überwachungsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Suche nach dem Terror-Trio von 2002 an weitgehend eingestellt wurden. "Zeitraum nach 2001: Keine weiteren Hinweise auf die Flüchtigen", heißt es im Geheimbericht des Bundesamts für Verfassungsschutz lapidar.
Dabei hatte der Thüringer Geheimdienst noch wenige Monate vorher von einem V-Mann Elektrisierendes erfahren. Demnach soll der heute als Terrorhelfer beschuldigte Ralf Wohlleben im April 2001 erzählt haben, die Untergetauchten benötigten kein Geld mehr, weil sie inzwischen "schon so viele Sachen/Aktionen gemacht hätten" - drei Banken hatte der NSU da schon ausgeraubt, wie man heute weiß.
Und während die Behörden rätselten, ob die Neonazis sich wohl nach Südafrika absetzen könnten, hatten die bereits ihren ersten Menschen ermordet.
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