Eurokolumne: Jetzt ist das Tafelsilber dran
„Integrierte“ Europäer leben nicht nur ökologisch, sondern auch finanziell und materiell jenseits ihrer dauerhaften Möglichkeiten. Rettung böte eine Postwachstumsökonomie.
S oeben hat der Naturschutzbund eine Warnmeldung herausgegeben, die viel über den ökologischen Zustand Europas verrät: Kiebitze, Grauammern, Wachteln und andere Tierarten drohen auszusterben, weil ihr Lebensraum schwindet. Der Ausbau der Intensivlandwirtschaft legt das hässliche Antlitz der europäischen Planierraupe frei.
Gleichzeitig wird das europäische Projekt als Modell für die Entwicklung anderer Kontinente betrachtet. Europa sei integrativ, tolerant, friedensstiftend und orientiere sich an sozialem Ausgleich. Ist dieser zivilisatorische Fortschritt eine kulturelle Leistung?
Die europäische Integration folgte nie einer anderen Logik, als soziale und politische Integrität mit ökologischer Plünderung zu erkaufen. Präzise drückte dies vor über 100 Jahren der Soziologe Georg Simmel aus. Fortschritt bestehe darin, die angesichts materieller Knappheit drohende „Menschheitstragödie der Konkurrenz“ dadurch zu mindern, dass soziale Konflikte in solche zwischen Mensch und Natur umgelenkt werden.
Die Substanzen der Natur in wachsenden Wohlstand umzuwandeln, verringert Rivalitäten. In dieses epochale Unterfangen lassen sich alle Menschen integrieren. Dabei entstehen Frieden stiftende Abhängigkeiten. Wer mit gemeinsamer Plünderung beschäftigt ist und Austauschbeziehungen zum beiderseitigen Nutzen unterhält, kommt nicht dazu, Kriege gegeneinander zu führen.
52, ist Volkswirtschaftler. An der Universität Oldenburg forscht er als außerplanmäßiger Professor am Lehrstuhl für Produktion und Umwelt und als Privatdozent zu Umweltökonomie und Nachhaltigkeit. Nebenbei arbeitet er als Redakteur und Moderator des TV Magazins „Wissenschaft Nachgefragt“ beim Sender oldenburg eins. Er gilt als einer der radikalsten Wachstumskritiker unter den Ökonomen.
An dieser Stelle wechseln sich wöchentlich unter anderem ab: Rudolf Hickel, Gesine Schwan, Eric Bonse, Sabine Reiner und Jens Berger.
Dienstleistungsschwemme
Industrielle Spezialisierung, Machtzentralisierung, monströse Subventionen, ressourcenschwere Infrastrukturen, exzessive Digitalisierung, entgrenzter Güter- und Personenverkehr sowie eine Dienstleistungsschwemme sollen das geeinte und friedliche Europa erhalten.
Mit der Einführung des Euro ließen sich nochmals Hindernisse einebnen, die einer gegenseitigen Durchdringung entgegenstanden. Mit einer neuen Trumpfkarte, dem „grünen“ Wachstum, lassen sich kommerzielle Erschließungsvorgänge ein letztes Mal intensivieren.
Jetzt ist das Tafelsilber dran: Verbliebene Landschaften sollen mit Windkraft-, Biogas-, Photovoltaikfreiflächenanlagen, Stromtrassen und Pumpspeicherkraftwerken industriell nachverdichtet werden, um den friedenstiftenden Krieg gegen die Ökosphäre mit veränderten Mitteln fortzusetzen.
Indes zeichnet sich ab, dass die solchermaßen „integrierten“ Europäer nicht nur ökologisch, sondern auch finanziell und materiell jenseits ihrer dauerhaften Möglichkeiten leben.
Nahende Ressourcenengpässe
Die Abhängigkeit von Herstellungsketten, durch die außereuropäische Flächen und Ressourcenquellen beansprucht werden, ist immens gestiegen, genauso die Verschuldung. Damit ist das Wohlstandsmodell immer angreifbarer geworden. Nicht nur das griechische Lehrstück, sondern nahende Ressourcenengpässe vergegenwärtigen: Wer immer weiter über seine Verhältnisse lebt, stürzt umso tiefer, wenn dem Versorgungsparadies der Saft ausgeht.
Die letzte Ausfahrt vor dem Kollaps besteht in einer Postwachstumsökonomie. Demnach wäre der Industriekomplex zu halbieren und durch ein Netz vitaler Regional- und Lokalökonomien zu ergänzen. Unternehmen würden die reduzierte Menge an Gütern instand halten, reparieren und optimieren. Aus Konsumenten würden moderne Selbstversorger. Sie arbeiteten infolge des Industrierückbaus noch durchschnittlich 20 Stunden, nutzten die freigestellte Zeit, um sich handwerklich und sozial zu betätigen.
Gemeinschaftsgärten, offene Werkstätten, Reparatur-Cafés, künstlerische Aktivitäten, die gemeinschaftliche Nutzung von Gegenständen, Netzwerke des entgeltlosen Tausches könnten ein modernes Leben mit weniger Geld und Produktion ermöglichen.
Eine Postwachstumsökonomie wäre von Sesshaftigkeit und materieller Genügsamkeit geprägt, aber sehr robust. Nur eine Balance aus sparsamer Industrie, ergänzt um autonome, vielfältige und kleinräumige Selbstversorgungssysteme, könnte die Europäer vor einem Europa schützen, das in seiner aktuellen Form unrettbar geworden ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Kretschmer als MP von Linkes Gnaden
Neuwahlen hätten der Demokratie weniger geschadet
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen