Die Wahrheit: Müder Maskenmann
Überraschung kurz vor Halloween: Massenmörder Michael Myers will's nicht gewesen sein. Er beteuert seine Unschuld und verdächtigt jemand anderen.
In der Halloween-Nacht vor 50 Jahren ermordete Michael Myers seine große Schwester mit einem Küchenmesser. Nun aber behauptet er in einem Internetvideo: Ich war’s nicht.
Für einen Mann, der so viele Morde auf dem Gewissen hat, dass die Welt aufgehört hat, sie zu zählen, spricht Michael Myers überraschend sanft. Es ist ohnehin ein Wunder, dass er spricht. Schließlich hat er das seit Jahrzehnten nicht gemacht. Nicht seitdem er mit sechs Jahren in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert worden war, weil er am Abend des 31. Oktober 1963 in der US-Kleinstadt Haddonfield seine große Schwester Judith mit einem Messer erstochen hatte.
Doch genau deshalb hat Myers sich nun in einem Internetvideo an die Öffentlichkeit gewandt, das auf den bekannten Plattformen bereits am ersten Tag die Millionengrenze überschritten hat. Gleich mehrfach beteuert er: Ich habe Judith nicht umgebracht.
Genau davon aber ist die Öffentlichkeit seit 50 Jahren überzeugt. In jener Halloween-Nacht waren die Eltern ausgegangen, seine ältere Schwester Judith und ihr Freund fummelten auf der Couch herum und gingen schließlich in ihr Zimmer, um miteinander zu schlafen. Da brannten bei Myers die Sicherungen durch, er bewaffnete sich mit einem Küchenmesser, wartete ab, bis Judiths Freund sich verabschiedet hatte, ging in ihr Zimmer und tötete sie mit mehreren Stichen.
Danach kam er in eine psychiatrische Anstalt, brach dort mit 21 Jahren aus und tötete weiter. Bis heute hat ihn die Polizei nicht gefasst, obwohl er mehrfach tot zu sein schien. Gewehrkugeln, Messer, Äxte, Explosionen, Autounfälle – er hat es alles überlebt.
Bis unter die Zähne bewaffnet
Doch der Mann, der auch im Video seine berühmte weiße Maske trägt, ein modifiziertes Captain-Kirk-Modell, sagt: Ich bin nicht der Mörder meiner Schwester. Er sei an dem Abend früh ins Bett gegangen, weil er im Gegensatz zu den anderen Jungs in seiner Klasse diese Trick-or-Treat-Tradition albern fand. Er habe noch in einem Kurzgeschichtenband von F. Scott Fitzgerald gelesen und dann das Licht ausgeknipst. Von dem Mord habe er nichts mitbekommen. Warum der Verdacht auf ihn fiel?
Er hat seine längst verstorbenen Eltern in Verdacht, die mit ihrem hochbegabten Kind nichts anzufangen wussten und die Gelegenheit nutzten, um ihn loszuwerden. Ein paar Hinweise auf seine Plastiksoldatensammlung und ein paar missverständliche Buntstiftbilder aus dem Kindergarten reichten aus. Er ist sicher, dass ein verliebter Nachbarsjunge Judith getötet hat, weil sie ihm wiederholt gesagt hatte, dass sie nicht auf ihn stehe. „Er hatte diesen kalten Blick, als ich ihn an diesem Tag sah. Er war das pure Böse.“
Auch die anderen Morde, die ihm angekreidet werden, bestreitet er. Nach seiner Beschreibung musste er aus der Anstalt ausbrechen, weil er unschuldig war, danach habe er sich ununterbrochen auf der Flucht befunden. Und deshalb war es für Polizei und Medien ein Leichtes gewesen, ihm jeden neuen Mord anzukreiden, jedes Messer, jede Eisenstange, jede Schere, jede Harke, die in einem toten Körper steckte.
„Seien wir einmal ehrlich: Die amerikanischen Bürger sind bis unter die Zähne bewaffnet. Jeder von ihnen könnte all die Babysitter und Krankenschwestern und Cops umgelegt haben. Jeder von ihnen könnte Michael Myers sein.“ Nur er selbst nicht. Weil ihm das aber niemand glaube, müsse er sich noch immer verstecken, bis Amerika begreift, dass er unschuldig ist.
Es ist in diesem Moment des Videos, als er tatsächlich seine Maske abnimmt und ein faltiges Gesicht zum Vorschein kommt mit einem traurigen Blick. Die Haare sind ergraut, Myers ist in diesem Jahr 56 Jahre alt geworden.
„Wenn all diese Geschichten wahr wären, dann hätte niemand zwischen Bürgerkrieg und 11. September so viele Menschen getötet wie ich. Glauben Sie wirklich, dass ein sechsjähriger Junge mit blonden Haaren seine Schwester umbringt und danach nichts Besseres zu tun hat, als regelmäßig in seine Heimatstadt Haddonfield zurückzukehren, um die Bevölkerungszahl weiter zu dezimieren?“ Er blickt noch einmal in die Kamera. „Wer das glaubt“, so sein bitteres Resümee, „hat zu viele Horrorfilme geguckt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja