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Die WahrheitVorausschauend geplanter ...

Kolumne
von Susanne Fischer

... Jahresrückblick. Die korrupteste Zeit des Jahres liegt zwischen Weihnachten und Neujahr.

D ie korrupteste Zeit des Jahres liegt zwischen Weihnachten und Neujahr. Gern wird sie „zwischen den Jahren“ genannt, offenbar in der verfehlten Annahme, dann könne man alles tun, brauche sich aber hinterher für nichts zu rechtfertigen, wenn Bilanz gezogen wird. Nur „zwischen den Tagen“ ist noch schlimmer – als ob der jährlich wiederkehrenden punktuellen Kauf-Ess-Betrink-Verknall-Hysterie eine verschärfte Bedeutung zukäme.

Da „zwischen den Jahren“ niemand damit rechnet, dass man für irgendein sinnvolles Vorhaben ansprechbar ist, hat man tatsächlich mal Zeit. Zeit, um depressiv auf dem Sofa herumzurollen, weil exzessives Spielen auf dem Handy doch nicht so toll ist, wie man immer gedacht hat. Na gut, das ist mein persönliches Problem, alle anderen wissen das bestimmt schon längst.

Zeit zum Zeitungslesen. Wie schön, das habe ich nie, jedenfalls nicht so viel. Aber ausgerechnet in diesen Tagen füllen sich die Zeitungen mit Jahresrückblicken, weil das sonstige Weltgeschehen offenbar Pause macht. Wahrscheinlich rollt es depressiv auf einem Sofa herum, vermutlich sogar auf meinem, ja, ich bin sicher, ich habe es gesehen. Es war grau und faltig, stöhnte und roch nicht sehr gut.

Derweil wurde ich mit „Die wichtigsten Themen des Jahres“ (Menschen, Politiker, Bücher, Konzerte) unterhalten. Das mag interessant sein für jemanden, der einen Teil der letzten zwölf Monate im Koma verbracht hat. Vielleicht sind ja Bewusstseinsgestörte die einzig übriggebliebene Print-Zielgruppe, und nein, ich rede nicht von Bild. Für wen Turboquatsch à la „240 Fragen, die man 2012 unbedingt hätte stellen sollen“ gedacht ist, mag ich mir nicht mal vorstellen.

Wer denkt sich so was aus? Wahrscheinlich dieselben gebeutelten Journalisten, die mich vor Weihnachten jedes Mal aufs Neue mit besorgten Tipps zum erfolgreichen Absolvieren der anstehenden Großfeste versorgen. „Waffen wegschließen!“ Nein, das steht da nicht. Bizarrerweise läuft es immer auf vernünftige Mäßigung hinaus. Dafür soll Weihnachten erfunden worden sein? Silvester? Was ist los mit den Leuten?

Gerührt war ich einzig davon, dass die Lokalzeitung einen Jahresrückblick auf das örtliche Wetter wagte. Was soll ich sagen, ich war jeden Tag dabei, aber man liest es ja trotzdem immer nochmal gern, wie es hier mal zu warm und dann wieder etwas zu frisch war. Geweht hat es auch mal, glaube ich jedenfalls.

Dieselbe Zeitung versorgt mich auch sonst mit zuverlässigen, jahreszeitlich angemessenen Tipps („Im Winter die Handschuhe nicht vergessen!“) und versucht mich außerdem seit Tagen hartnäckig zum Besuch eines Abba-Coverband-Konzerts zu veranlassen, das im Jahresrückblick 2013 sicher einen prominenten Platz einnehmen wird.

Ich arbeite inzwischen verschärft an meiner eigenen künftigen Rückschau. Die interessantesten Frühstücke des Jahres, Regentropfen, die mir gefielen, und wie der Sessel erst so und dann wieder so stand. Erscheint zwischen den Tagen. Das Exklusiv-Interview mit dem Weltgeschehen gibt es als Bonustrack.

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1 Kommentar

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  • A
    anke

    Ich möchte eher nicht wissen, Frau Fischer, wie viele der verbliebenen Zeitungen ihren LeserInnen zwischen den Jahren mangels echter bzw. anderer Aufreger dringend zu guten Vorsätzen geraten haben. Wenn auch nur eine davon sich explizit an deutsche Journalistinnen und Journalisten gewandt hat, hat sie denen aber jedenfalls ganz bestimmt empfohlen, schnellstmöglich den Job zu wechseln, so bald sich der Glaube einschleicht, die Bewusstseinsgestörten könnten die einzig übriggebliebene Print-Zielgruppe sein. Und zwar nicht nur für Bild, sondern unter Umständen auch für das eigene Blatt. Offenbar folgen die meisten Betroffenen diesem Rat umgehend und kompromisslos. Dass nämlich jemand von einiger Bekanntheit den Ursachen jener Annahme erfolgreich oder auch nur öffentlich entgegengetreten wäre, ist mir bislang weder zu Ohren noch zu Augen gekommen. Was, zugegeben, auch einfach daran liegen kann, dass mit dem 2.1. eines jeden Jahres der normale Stress wieder los geht und keine Zeit für Interventionen grundsätzlicherer Art bleibt. Vielleicht aber flüchten die negativ Denkenden ja doch. Weil sie Angst haben, in absehbarer Zeit depressiv auf einem Sofa herumzurollen, grau und faltig auszusehen, zu stöhnte und nicht sehr gut zu riechen dabei, wenn sie noch länger bleiben - und irgend was zu ändern versuchen. Es soll ja angeblich gar nicht gut sein, wenn man den Sinn seiner Tätigkeit über längere Zeit (also nicht nur während der s.g. Saure-Gurken-Zeit "zwischen den Tagen") all zu sehr in Zweifel zieht. Sagen jedenfalls die Medien. Und die müssen es doch wissen, Frau Fischer, oder etwa nicht? Wieso also folgen Sie nicht einfach dem gut gemeinten Rat, der ganz gewiss irgendwo geschrieben steht, und werden, sagen wir: Kindergärtnerin, Köchin oder Kanzlerin. Sie können ja vorsichtshalber vorher noch Religion studieren.