: Die Rue Daguerre in Paris
Warum ausgerechnet in diese Straße, wenn man die Chance hat, all das zu sehen, was Paris sonst so zu bieten hat? Weil sie im Schulbuch steht und den französischen Alltag repräsentiert
von HANS W. GIESSEN und MARLENE GRUND
Wer nach Paris fährt, besucht den Louvre, den Eiffelturm oder Notre Dame. Aber die Rue Daguerre? Das wird wohl selbst Fotofreunden kaum einfallen, eine ganz normale Straße im 14. Arrondissement von Paris aufzusuchen, nur weil sie nach einem der Pioniere dieser Kunst aus dem 19. Jahrhundert benannt ist. Eine Straße, die ansonsten in keinem Reiseführer steht, außer vielleicht im Infoteil, weil es hier einige preisgünstige Hotels gibt. Warum ausgerechnet in diese Straße, wenn man die Chance hat, all das zu sehen, was Paris sonst so zu bieten hat?
Unsere 13-jährige Tochter Hanna wollte unbedingt in diese Straße, denn sie hat eine ganz besondere Beziehung zur Rue Daguerre: Diese Straße ist der Mikrokosmos, den ihr Frankreichbuch beschreibt, um französisches Leben, französische Alltagskultur, französischen Wortschatz und natürlich auch Grammatik zu vermitteln. Das fängt bereits im ersten Buchkapitel an, in dem Familie Rigot in die Rue Daguerre einzieht. Monsieur Rigot ist Zugführer des TGV, seine Frau arbeitet als Krankenschwester, und sie haben einen Sohn namens Julien. Die Familie ist aus Rennes nach Paris gezogen, und Julien lernt nun die anderen Kinder der Straße kennen: zuerst Isabelle aus der Nachbarwohnung, dann Luc und Nathalie, zwei Geschwister, die sich ständig necken, und Julie, die Busenfreundin von Nathalie, sowie François, den Klassenclown, schließlich Ahmed und Yasmina, die Kinder von Monsieur Saïd. Das ist der aus dem Maghreb stammende Lebensmittelhändler der Straße, der fast rund um die Uhr geöffnet hat und dessen Kinder ihm deshalb häufig helfen müssen. „L’épicier est toujours là …“ heißt ein Kapitel im Französischbuch unserer Tochter. Der Lebensmittelhändler ist immer da.
Im Französischbuch steht viel über den schwierigen Alltag der Familie Saïd, die sich in der Rue Daguerre gegen die Dumpingpreise von Billigsupermärkten und die ständig steigenden Mieten behaupten muss. In ihrem mühsamen Kampf kann sie aber auch immer wieder auf das Gemeinschaftsgefühl der Leute aus der Rue Daguerre zählen. Auch die Kinder in dieser Straße halten zusammen und fahren gemeinsam Skateboard am Fuß des Tour Montparnasse, nur wenige hundert Meter nördlich der Rue Daguerre. Auf diesen Büroturm aus den späten Sechzigerjahren zieht es übrigens auch viele Parisbesucher. Und viele Jugendliche fahren mit ihren Skateboards am Fuß des Tour Montparnasse herum. Ob da auch Luc aus dem Französischbuch dabei ist? Jetzt sind wir jedenfalls ganz in der Nähe der Rue Daguerre. Da können wir doch auch hingehen!
Zunächst erlebt Hanna einen durchaus überraschenden Wiedererkennungseffekt: Die Bilder im Französischbuch „Découvertes“ zeigen tatsächlich diese Straße. Da ist ein Foto von einem Fischladen; und jetzt sehen wir das Schild mit dem Schriftzug „Poissonnerie“, dazu das Abbild eines riesengroßen Fischs, dunkelblau vor orangegelbem Hintergrund. Die Bäckerei mit dem verschnörkelten Schriftzug vom Foto auf Seite 22 des Französischbuchs – dort ist sie! Buntes Straßenleben, wir sehen Franzosen wie im Bilderbuch, viele Bewohner kommen auch aus dem Maghreb, es gibt hier auf wenigen hundert Metern mindestens zwölf Restaurants im Spektrum von japanisch bis kreolisch, und wir sehen auch einen Blumenladen namens „Edelweiss“.
Hier dominieren kleine Einzelhandelsgeschäfte. Mit der Ausnahme eines einzigen „Monoprix“ – bezeichnenderweise das letzte Haus der Straße, das Eckhaus, das eigentlich schon zur avenue du Général Leclerc gehört – gibt es hier keine Kaufhausketten. In der kleinen Boutique, in der Hanna neue und übrigens natürlich besonders gut sitzende Jeans erhält, probiert eine Frau T-Shirts an. Der Rollstuhl ihres behinderten Sohns blockiert fast den schmalen Durchgang, aber das macht nichts, die Kunden quetschen sich daran vorbei, während der junge Mann mit den Verrenkungen eines spastisch Gelähmten Luftgitarre zur Popmusik im Radio spielt. Die Besitzerin der Boutique erzählt, dass sie sich in der Straße auch eine Wohnung genommen habe. Ganz bewusst, denn die Rue Daguerre sei „très très sympa!“. Ob in dem Haus mit der Nummer 10 tatsächlich die Familien Rigot und Lacroix wohnen, wie im Französischbuch geschildert, bekommen wir nicht heraus. Es ist in Paris üblich, dass man nicht in den Hausflur kann, ohne am anonymen Eingang auf einer blank geputzten silberfarbenen Tafel einen Code eingegeben zu haben.
Eindrucksvoll ist das Geschäft im Erdgeschoss, das fast die gesamte Hausfront einnimmt: eine Pferdemetzgerei. Oberhalb des Schaufensters blicken große hölzerne Pferdeköpfe, wie frisch vom Karussell, herunter auf die Straße.
Und dann entdecken wir ihn tatsächlich, den Lebensmittelladen des Monsieur Saïd. Es gibt dort wunderbares Obst, und wir kaufen gleich frisch ein. Ein Junge im „richtigen“ Alter bedient uns – ist das Ahmed? Wir kommen ins Gespräch mit seinem Vater, dem Besitzer, und stellen überrascht und begeistert fest: Die Geschichte im Französischbuch stimmt wirklich! Der Mann ist ein Verwandter des Monsieur Saïd, der inzwischen „en retraite“, also in Rente, sei. Deshalb lebe er jetzt nicht mehr hier, sondern sei nach Marokko zurückgekehrt. Das Team, das das Französischbuch geschrieben hat, sei vor etwa zehn Jahren hier gewesen! Gelegentlich, so erzählt er uns, kommen Deutsche vorbei, so wie wir, und er hat auch schon einmal einen Brief von einer Schulklasse bekommen! Hanna ist begeistert: Da kennt sie, über ihr Buch, wirkliche Menschen in Paris – zumindest deren Verwandte! Da ist nichts erfunden, das ist das wahre Leben!
Wahr ist nach wie vor, dass es der Épicier nicht einfach hat. Der Laden ist sechs Tage die Woche fast rund um die Uhr geöffnet. Neben Katzenfutter, Kartoffelchips und Kernseife steht der Kopierer, ein Serviceangebot für die Alten unter den Nachbarn. Persönliche Zuwendung macht wett, was es mehr kostet als im Supermarkt.
Natürlich essen wir jetzt in „unserer“ Straße zu Mittag. Wir haben ein ausgezeichnetes Restaurant entdeckt, das sich der Küche der Herkunftsregion seiner Besitzer widmet, der Auvergne und des Périgord. Andere „bekannte“ Bewohner unserer Straße suchen wir jetzt nicht mehr, denn wenn das Schulbuchteam vor zehn Jahren hier war, dann sind Isabelle und Luc und die anderen, die damals 13 Jahre alt waren wie unsere Tochter heute, inzwischen 23 und vermutlich schon fast mit ihrem Studium fertig.
Auf dem Rückweg kommen wir dann noch an einer weiteren Épicierie vorbei. Und erleben einen deutschen Vater, der den Épicier fragt, ob er der Händler aus dem Französischbuch sei … Ob er ihn bitte für seinen Sohn fotografieren dürfe, der habe ihn darum gebeten. Und wir hören, dass der Épicier erzählt, Monsieur Saïd sei zurzeit leider im Krankenhaus und komme vielleicht erst in einigen Monaten wieder, aber er sei der Onkel …Wir sehen uns an. Dann gehen wir zu einer dritten Épicierie und sprechen den dortigen Händler an, der offenbar ebenfalls aus dem Maghreb stammt, aber noch jünger ist. Er erzählt, er arbeite erst seit vier Jahren in der Rue Daguerre, doch auch er sei schon oft von Deutschen angesprochen worden. Eine Familie Saïd kenne er nicht, in dieser Straße wohne sie sicher nicht. Aber natürlich weiß er nicht, ob die Familie Saïd nicht doch vor zehn Jahren hier gelebt hat …
Auf dem Rückweg sehen wir noch immer Kinder auf ihren Skateboards am Fuß des Tour Montparnasse fahren. Die Touristen dort oben ahnen wenig von den Alltagsgeschichten, die sich ihnen zu Füßen abspielen. Aber auch wir wenden uns jetzt wieder entfernteren Zielen zu, dem Arc de Triomphe, der Madelaine und dem Panthéon. Und natürlich dem Eiffelturm.