Debatte Jobwunder: Die Lüge von der Arbeit
Die Realität ist unerfreulich: Die Hartz-Reformen haben keine neue Arbeit geschaffen. Doch die Politik druckt fleißig Propaganda-Plakate, die das Gegenteil behaupten.
D ieses Plakat hängt an allen großen Bahnhöfen: "Danke, Deutschland", heißt es darauf in großen Lettern. Wer da dankt, steht gleich darüber: "So viele Menschen in Arbeit wie nie zuvor". Dann folgt noch die Alliteration: "Wirtschaft. Wachstum. Wohlstand." Die Botschaft soll also nach Hause gehämmert werden.
Fragt sich nur noch: Wer ist das Deutschland, dem da gedankt wird? Auch das bleibt nicht geheim. Links unten in der Ecke findet sich der entscheidende Hinweis. Da prangt das Logo des "Bundesministeriums für Wirtschaft und Technik". Wenig subtil schwingt sich FDP-Wirtschaftsminister Philipp Rösler zum Brötchengeber der Nation auf.
So viele Plakate sind natürlich nicht umsonst zu haben. Rund 330.000 Euro hat die "Danke, Deutschland"-Kampagne gekostet, teilt das Ministerium auf Anfrage mit. Das ist viel Geld für eine Lüge.
ist wirtschaftspolitische Korrespondentin der taz.
330.000 Euro für eine Lüge
Natürlich ist es keine direkte, krasse Lüge, dass "so viele Menschen in Arbeit wie nie zuvor" seien. Aber man kann ja auch durch Unterlassung lügen. So stimmt es zwar, dass jetzt 41,47 Millionen Menschen in Deutschland erwerbstätig sind - und damit so viele wie noch nie. Doch dieser Rekord ist bedeutungslos. Denn obwohl so viele Menschen arbeiten, gibt es nicht mehr entlohnte Arbeit.
Stattdessen arbeiten mehr Menschen weniger, wie sich zeigt, sobald man nicht auf die Zahl der Erwerbstätigen starrt - sondern auf die geleisteten Arbeitsstunden. Dann stellt sich heraus: Im Jahr 2000 wurden insgesamt 57,7 Milliarden Arbeitsstunden absolviert, 2010 waren es 57,43 Milliarden. Wo ist da der Fortschritt? Es ist etwas übertrieben, dafür zu "danken", dass in zehn Jahren das Arbeitsvolumen leicht geschrumpft ist.
Der "Rekord" bei den Erwerbstätigken lässt sich äußerst banal erklären: Vor allem die Teilzeit nimmt zu. Um auf diese Erkenntnis zu stoßen, ist übrigens keine investigative Recherche nötig. Man muss nur im Statistischen Jahrbuch nachsehen, was auch einem Bundeswirtschaftsministerium zuzumuten wäre.
Zudem muss noch eine zweite Zahl stutzig machen, die das Statistische Bundesamt regelmäßig veröffentlicht: Momentan sind 8,4 Millionen Menschen in Deutschland "unterbeschäftigt", womit gemeint ist, dass sie sich mehr Arbeit wünschen. Dazu zählen 2,9 Millionen Erwerbslose, 1,2 Millionen in der stillen Reserve sowie 2,2 Millionen Menschen, die gern ihre Teilzeit aufstocken würden. Besonders alarmierend: Auch 2,1 Millionen Vollzeitbeschäftigte würden gern ihre Arbeitszeit ausdehnen, woraus zu schließen ist, dass bei vielen der Verdienst nicht reicht.
Schweigen beim Fachreferat
"Unterbeschäftigte" Millionen passen jedoch nicht zu der Saga, dass die Erwerbstätigkeit in Deutschland boomt. Das Bundeswirtschaftsministerium muss also wissen, dass die "Danke, Deutschland"-Plakate die Wirklichkeit entschieden schönen. Doch Genaues weiß man nicht. Zur Unterbeschäftigung will sich im Wirtschaftsministerium nämlich niemand äußern. Die Pressestelle kann nur übermitteln, dass "vom Fachreferat dazu nichts zu bekommen" sei.
Es ist kein Zufall, dass das Wirtschaftsministerium so dringend behaupten will, dass in Deutschland ein Paradies der Erwerbstätigkeit eröffnet hat. Die "Danke, Deutschland"-Plakate sind Teil einer größeren Erzählung, die da lautet: "Hartz IV" war notwendig. Es war die Rettung der Bundesrepublik, dass damit ein Niedriglohnsektor geschaffen wurde. Ohne die "Agenda 2010" hätte es 2010 niemals so viele Beschäftigte gegeben.
Diese Groß-Erzählung wird nicht nur von der schwarz-gelben Regierung betrieben. Sie ist genauso beliebt bei vielen Sozialdemokraten und Grünen, die ja unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder die Hartz-Reformen erfunden haben. Gegen dieses parteiübergreifende Kartell der Schönfärberei ist schwer anzukommen. Deswegen sei es - noch einmal - gesagt: Nein, Hartz IV hat gar nichts gebracht. Die Zahl der Arbeitsstunden ist nicht gestiegen; es wurde keine neue Beschäftigung geschaffen.
Es war eben schon immer ein Trugschluss zu glauben, man könnte Arbeit erzeugen, indem man den Arbeitsmarkt reformiert. Stattdessen wurden nur die Arbeitnehmer enteignet. Die Hartz-Reformen haben keine Beschäftigung geschaffen, dafür aber die Verhandlungsmacht der Beschäftigten beschnitten. Nirgends lässt sich dies besser sehen als bei den Reallöhnen, die zwischen 2000 und 2010 nur um insgesamt 4,4 Prozent gestiegen sind. Die Wirtschaft hingegen wuchs gleichzeitig um 9,7 Prozent, so dass also der größte Teil des Zugewinns an die Kapitaleigner gegangen ist, an die Unternehmer und Aktionäre.
Die Reichen werden reicher in Deutschland, während für die Masse wenig bleibt. Diese Diskrepanz fällt auch dem Ausland auf. Erst kürzlich hat die OECD erneut festgestellt, dass in kaum einem anderen Industrieland Arm und Reich so schnell auseinanderdriften wie in der Bundesrepublik.
Ängstlicher Nationalismus
Die Deutschen befinden sich auf einem seltsamen Sonderweg. In keinem anderen EU-Staat sind die Löhne seit 2000 so schleppend gestiegen, wie ein europaweiter Vergleich des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) jüngst ermittelt hat.
In Deutschland selbst wird gern behauptet, dass die Löhne nicht stark zulegen dürften, weil sonst die Exporte gefährdet seien. Dieser ängstliche Nationalismus ist abwegig, wie der Blick auf andere Exportnationen zeigt: In Finnland, Dänemark, Frankreich oder den Niederlanden stiegen die Arbeitskosten doppelt so stark wie in Deutschland, ohne dass dort die Wirtschaft zusammengebrochen wäre. Im Gegenteil. Das Wachstum war höher als hierzulande. "Danke, Deutschland" - darauf kann nur kommen, wer nicht über die Grenzen guckt.
Wirtschaft, Wachstum, Wohlstand? Diese Alliteration wird weiterhin eine geschönte Behauptung auf Plakaten bleiben, wenn sich die Bundesregierung nicht der Realität stellt: Es schafft keine Arbeit, sondern nur Armut, die Löhne zu drücken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vermeintliches Pogrom nach Fußballspiel
Mediale Zerrbilder in Amsterdam
Berichte über vorbereitetes Ampel-Aus
SPD wirft FDP „politischen Betrug“ vor
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Scholz telefoniert mit Putin
Scholz gibt den „Friedenskanzler“
Grünen-Parteitag in Wiesbaden
Grüne wählen neue Arbeiterführer
Neuwahlen
Beunruhigende Aussichten