piwik no script img

Debatte EuropaMerkels Europa ist falsch

Kommentar von Dierk Hirschel

Noch immer sind die Gewerkschaften meilenweit davon entfernt, für ein soziales Europa zu mobilisieren. Trotzdem deutet sich ein Umdenken an.

Proteste der Müllmänner in Belgien: Den nationalen Gewerkschaften gelingt es nicht, den Protest zu europäisieren. Bild: dapd

E uropa fährt Geisterbahn. Angela Merkel und Nicolas Sarkozy haben die Deutungshoheit über die Krise zurückgewonnen. Sie haben die Finanzmarktkrise zur Staatsschuldenkrise erklärt, angeblich verursacht durch prassende Kassenwarte, maßlose Beschäftigte und Rentner. Ursache und Wirkung der Krise wurden verdreht. Jetzt können die EU-Staatschefs mit dem Schuldenknüppel umverteilen. Europaweit werden im Namen gesunder Staatsfinanzen Löhne und Renten gekürzt, wird öffentliches Eigentum verscherbelt, die Tarifautonomie ausgehebelt und werden Arbeitnehmerrechte geschleift.

Die deutsche Kanzlerin nutzt die Gunst der Stunde, um das Europäische Haus umzubauen. Erst kürzlich wurden den europäischen Kassenwarten neue Daumenschrauben angelegt und wurden die bisher gültigen Schuldenregeln verschärft. Die Staaten, deren Schuldenquote über 60 Prozent liegt, müssen künftig ihre Schulden jährlich um ein Zwanzigstel reduzieren. Schuldensünder zahlen hohe Bußgelder.

Was technisch klingt, hat drastische politische Folgen: Allein Italien muss nun pro Jahr 45 Milliarden Euro einsparen. Das neue Brüsseler Regelwerk treibt den Sozialabbau von Athen bis Paris voran. Theoretisch könnten höhere Steuern das Spardiktat lindern, praktisch schrumpfen jedoch die öffentlichen Ausgaben. In Griechenland, Spanien und Portugal können bereits heute die ökonomischen und sozialen Folgen einer blinden Sparwut besichtigt werden. Merkels europäische Stabilitätsgemeinschaft mutiert zu einer Stagnations- und Deflationsgemeinschaft.

Im Konflikt um Merkels neues Europa stehen die Gewerkschaften vor einem grundlegenden Strategiewechsel. Die organisierte Arbeitnehmerschaft hat über Jahrzehnte hinweg die europäische Integration politisch gestützt. Auch in Zeiten, als die Legitimationskrise der EU bereits mit Händen zu greifen war. Doch ein Europa, das die Arbeits- und Lebensbedingungen von Millionen Beschäftigten, Arbeitslosen und Rentnern verschlechtert, ist nicht mehr unser Europa. Daher hat der Deutsche Gewerkschaftsbund nun einen Vierpunkteplan zur Überwindung der Krise vorgelegt.

Jedes Land protestiert für sich

Doch Papier ist bekanntlich geduldig. Welches Europa die Gewerkschaften wollen, interessiert die Berliner und Brüsseler Politik herzlich wenig. Lediglich als nationaler Krisenmanager sind die Interessenvertretungen der abhängig Beschäftigten hin und wieder gefragt. Das wird sich so lange nicht ändern, bis die Gewerkschaften für ein "soziales Europa" mobilisierungsfähig sind.

Dierk Hirschel

ist seit 2011 Ver.di -Betriebsleiter Wirtschaftspolitik. Zuvor war der promovierte Wirtschaftswissenschaftler Chefökonom beim DGB. Er lebt in Berlin.

Davon sind wir heute meilenweit entfernt. Den nationalen Gewerkschaften gelingt es nicht, ihren Protest zu europäisieren. In Athen, Madrid, Rom und Lissabon organisieren Gewerkschaften den Widerstand gegen Lohnkürzungen, Entlassungen und Sozialabbau. Mit Streiks und Massendemonstrationen werden die Kürzungs- und Streichpläne verzögert und abgeschwächt. Für einen Stopp des neoliberalen Umbaus reicht die gewerkschaftliche Organisationsmacht aber nicht aus. Eine Koordination der Proteste findet nicht statt. Die Griechen streiken am Montag, die Spanier am Mittwoch, Rom protestiert am Samstag, und Berlin verschickt Solidaritätsadressen. Aus dieser Vielfalt entsteht keine starke Allianz des Widerstands.

Eine Ursache liegt in der Ungleichzeitigkeit der Krise. In Madrid und Athen hat die Krise inzwischen die gesamte Gesellschaft erfasst. Jeder Fünfte hat keine Arbeit. In Wolfsburg, Sindelfingen und Ludwigshafen werden hingegen Sonderschichten gefahren und Erfolgsbeteiligungen ausgezahlt. Am Mittelmeer kürzen und streichen Rajoy, Monti und Papademos, was der Rotstift hergibt. Angela Merkel hingegen hat den großen Sparhammer noch gar nicht ausgepackt. Dank sprudelnder Steuereinnahmen war der Berliner Spardruck bisher gering. Natürlich hängt die Bereitschaft und Fähigkeit zur Gegenwehr nicht allein vom eigenen Geldbeutel ab. Ohne persönliche Betroffenheit bleibt aber die internationale Solidarität abstrakt.

Gemeinsam gegen Spardiktat

Zudem gibt es in Europa sehr unterschiedliche nationale gewerkschaftliche Traditionen, die ein grenzüberschreitendes Handeln erschweren. In Ländern mit politischem Streikrecht und ohne Friedenspflicht werden die Konflikte schneller und häufiger auf der Straße ausgetragen. In Deutschland, Österreich und Skandinavien wird lieber verhandelt. Natürlich schwächen auch die politischen Rivalitäten unter den Gewerkschaftsbünden die Durchsetzungskraft. Besonders dann, wenn die parteipolitischen Bündnispartner, wie in Spanien, Italien und Griechenland, an der Regierung waren oder noch sind.

Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) kann diese Mobilisierungsdefizite nicht ausgleichen. Er kann lediglich koordinieren. Die politische Initiative muss immer von den nationalen Gewerkschaftsbünden ausgehen. Dennoch ist es gelungen, eine politische Verständigung über die Ursachen und Lehren aus der Krise zu organisieren. Auf dem letzten EGB-Kongress in Athen positionierten sich die Europäischen Gewerkschaften klar gegen das Brüsseler Spardiktat und den Euro-Plus-Pakt. Es folgten mehrere europaweite Aktionstage. Ende Februar wird es einen weiteren europaweiten Protesttag gegen den Fiskalpakt geben.

Veränderung braucht in Europa einen langen Atem. Zunächst folgen die Abwehrkämpfe einer rein nationalen Logik. Mit Ausbreitung der Krise verschärfen sich aber die Verteilungskonflikte auch im Norden des alten Kontinents. Dann besteht die Chance, dass die sozialen Konflikte Grenzen überschreiten und sich der Protest europaweit organisieren lässt. Automatisch geschieht das nicht. Nötig ist jetzt politische Aufklärung über die Ursachen der Krise. Die Erzählung von korrupten und faulen Südeuropäern ist auch in den Betrieben populär. Aus diesem Grund trägt Ver.di die politische Auseinandersetzung über die Zukunft Europas in die Betriebe und Verwaltungen. Die kommenden Tarifrunden sind dafür ein guter Anlass. Die Schuldenfrage ist eine Verteilungsfrage, lautet die zentrale Botschaft - in Hannover, in Stuttgart, in Athen, in Rom und in Lissabon.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

10 Kommentare

 / 
  • G
    Garfield

    @Kevin 13.02. 16:16

     

    die Griechen kriegen was in den Arsch geschoben, seit wann das denn?

     

    "die Griechen" sind ihre Gläubiger - zum großen Teil also _deutsche_ Banken.

     

    Außer Niedriglöhnen und SPAREN, SPAREN, totgespart bleibt bei "den Griechen" nicht viel hängen.

  • D
    deutscherExportWAHN

    Korrigiert: Unterschiedliche Preis- und Lohnniveaus können ungleiche Wettbewerbsvoraussetzungen (Infrastruktur, Bildungsstruktur, natürl.Ressourcen, ...) ausgleichen. Mässige Inflation in Deutschland und schmerzhafte Deflation in strukturschwachen EU-Regionen kann langfristig zu produktiver Chancengleichheit beitragen.

    Gleichmacherei bei Sozialstandards ist allokativ ineffizient und schadet zuletzt allen. Mehr zu verteilen als effizient erarbeitet und besteuert wurde, musste auf Dauer ins Desaster führen.

  • V
    Volkswirtschaftler

    Zuerst waren (nach Überbewertung der Drachme beim Wechsel zum Euro) ständige Leistungsbilanzdefizite und eine Sucht griechischer Regierungen, Schulden zu machen. Jahrelang wuchsen Schulden der Volkswirtschaft gegenüber dem Ausland (amtlich mit statistischen Täuschungen geschönt - inzwischen unbestritten), bevor die Finanzmarktkrise(n) die Schuldenkrise verschärfte.

    Wer hier eine Verdrehung der Ursache-Wirkungsbeziehung sieht, stellt eloquent den Zeitablauf auf den Kopf, damit die taz-Realität den taz-Wünschen genügen möge:

    „Sie haben die Finanzmarktkrise zur Staatsschuldenkrise erklärt, angeblich verursacht durch prassende Kassenwarte, maßlose Beschäftigte und Rentner. Ursache und Wirkung der Krise wurden verdreht.“

  • ML
    Martina Lippmann

    Ein eloquenter Kommentar, ich finde wir sollten das machen wie die USA, die können föderal, haben einen Präsi der einpeitscht, jeder kann machen was er will, keiner will nach Tijuana,

    nur auf keinen Fall wie die Gelben in ihrem Riesenreich, 654 Schritte zum Teekochen sind ein bißchen zu intelligenzlastig; außerdem haben wir noch keinen Kaiser, oder? Aber einen EUPräsidenten wüßte ich schon.

  • RK
    Rüdiger Kalupner

    Angela Merkel betreibt einen Epochenwechsel, um die EURO-Krise zu beenden. Damit ist der Exodus aus dem 2%Wachstumszwang-Regime der KAPITALSTOCK-Maximiererei gemeint.

     

    Wachstum wird dann aus zunehmender Beschäftigung-hin-auf-Vollbeschäftigung und nicht aus erzwungenem Kapitalstock-Aufbau (= Investitionen, die Arbeitsstunden weg-rationalisieren) kommen. Durch letztere entsteht der Wachstumszwang - via steigenden Bruttoarbeitskosten. Z.Zt. wird dieser Zwang mit der Tariflohnerunde von IGM und Ver.di weiterunterfüttert.

     

    Der epochenwechsel-mächtige Austausch der Wachstumsquelle gelingt genial über eine ökologische Umfinanzierung der Sozial- und Staatsleistungen auf Energie-/Kapitalstock/Maschinen durch entsprechende Steuern. Beim Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherungen - rd. 200 Mrd. € p.a. - könnte sofort begonnen werden, oder noch durchsetzungsmächtiger durch die Einführung eines ökofinanzierten Grundeinkommens-für-Jedermann - bei 30 € p.m. beginnend - das an die Stelle der IGM-/Ver.di-Tairfrunde2012 tritt.

     

    Es stehen also für Angela Merkel einige Optionen bereit, um die EURO-Krise mittels Epochenwechsel zu beenden. Das weiß aber fast niemand in der breiten Öffentlichkeit

     

    Die Gewerkschaften sind natürlich gegen den Epochenwechsel. Sie bilden heute n o c h - via Tarifautonomie und durch ihre Funktion, für steigende Bruttoarbeitskosten zu sorgen - die Massenbasis des Ancien Régimes des 2%Wachstumszwang-Tyrannen. Ihre Vorstände wissen, dass sie die Ar eitnehmer in D seit Jahrzehnten verraten. das. Sie werden mit dem Epochenwechsel zwar nicht untergehen, aber doch als Teil der Kapitalinteressen-Machtstruktur verschwinden.

  • E
    Elsa

    Das bestehende Europa ist ein Europa zum Nutzen der Konzerne und Banken.

     

    Die Gewerkschaften nutzen ihre Macht regelmäßig nicht bzw. nicht konsequent, weshalb viele Leute dann austreten.

     

    So mancher fragt sich schon lange. Sind die, die an der Spitze der Gewerkschaften stehen, korrupt?

     

    Wann, wenn nicht jetzt, wo die Arbeits- und Lebensbedingungen für immer mehr Menschen in Europa von oben aus massiv verschlechtert werden, müssten die Gewerkschaften endlich mal europaweit zusammen arbeiten und tätig werden, um die kleinen Leute zu unterstützen und organisieren?

  • K
    Kevin

    Ich halte ihre Politik momentan für sehr gut. Bin eigentlich Wähler der Linken, aber die will ja immer mehr Europa und hat kein Problem damit den Griechen unendlich Geld in den Arsch zu schieben, Solidarität und so. Bei der nächsten Wahl werde ich auf jeden Fall mein Kreuzchen bei der CDU machen! Und im Bekanntenkreis sieht's ähnlich aus.

  • D
    deutscherExportWAHN

    Unterschiedliche Preis- und Lohnniveaus können ungleiche Wettbewerbsvoraussetzungen (Infrastruktur, Bildungsstruktur, natürl.Ressourcen, ...) ausgleichen. Mässige Inflation in Deutschland und Deflation in strukturschwachen EU-Regionen kann zu produktiver Chancengleichheit führen. Gleichmacherei bei Sozialstandards ist allokativ ineffizient und schadet zuletzt allen.

  • G
    Gallier

    Man sollte endlich aufhören, von einem "Vereinten Europa" zu schwafeln; die europäische Öffentlichkeit glaubt ohnehin nicht daran. Die Lateinische Münzunion hat ja auch nur ein paar Jahrzehnte gehalten, eben so lange es noch die Goldwährung gab, danach war Schluß.

    Merkel und ihre Entourage betreiben mehr Machtpolitik als Ökonomie. Sie haben sich in die Griechenlandfalle hineinmanövriert und wissen jetzt wohl keinen Rat. Das Wahlresultat in Frankreich jetzt im Frühjahr wird alles noch komplizierter machen.

  • F
    Frank

    Man sollte sich ernsthafft fragen ob der Artikel nicht ironisch gemeint ist.

     

    Ich sage die Staaten haben kein Einnahmeproblem, Sondern ein Ausgabeproblem, noch nie waren nicht nur in Deu. die steuereinnahmen so hoch.

     

    Verschulden tut man sich durch zu viel ausgeben und zuviel ausgegeben wurde vorallem im "sozialen" Haushalten.

     

    Passend dazu;

    eine alternatieve "Denkmöglichkeit":

    http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/verschuldung_im_zeichen_der_gerechtigkeit/