Das miese Spiel der Berufsgenossenschaften (II): Wer den Schaden hat
Wer durch seine Arbeit erkrankt, hat Anspruch auf die Unterstützung der Berufsgenossenschaften. Doch längst nicht jeder bekommt eine angemessene Entschädigung.
Wer durch eine berufliche Tätigkeit krank wird, hat Anspruch auf Entschädigung. Theoretisch. Doch dass Geschädigte tatsächlich zu ihrem Recht kommen, ist damit längst nicht gesagt. Denn je mehr Berufskrankheiten anerkannt werden, desto teurer kommt dies die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) zu stehen. Und die versucht, wo es irgend geht, die Auszahlung von Renten zu vermeiden. Zur Hilfe kommt ihr dabei eine höchst undurchsichtige Verfahrensstruktur.
Damit eine Rente wegen Berufskrankheiten gezahlt werden kann, müssen die Krankheitssymptome eines Geschädigten einer anerkannten Berufskrankheit zugeordnet werden. Eine davon ist die "BK 1317". Diese Berufskrankheit, die im Jahr 1997 katalogisiert wurde, beschreibt durch Lösungsmittel verursachte Nervenschäden; meist geht es dabei um Polyneuropathie und Enzephalopathie. Lösungsmittel stecken in Farben, Lacken, Klebstoffen, Desinfektionsmitteln oder Leichtbenzin. Sie zerstören das zentrale Nervensystem und verursachen unheilbare Schäden. Sie machen vergesslich, aggressiv und lösen Hyperallergien aus.
In Deutschland kommen Hunderttausende auf der Arbeit, aber auch im Privatleben mit solchen Lösungsmittelgemischen in Berührung. Vermutlich sind es einige tausend Menschen, die alljährlich dadurch erkranken. Aber nur einem Dutzend davon bewilligt die zuständige Berufsgenossenschaft eine Rente.
Für die Anerkennung von maßgeblicher Bedeutung ist das "ärztliche Merkblatt", das ein Sachverständigenbeirat der Bundesregierung erstellt. Solche Merkblätter dienen den niedergelassenen Ärzten als Richtlinie zur Erkennung einer berufsbedingten Schädigung. Bei einem Verdacht auf eine Berufskrankheit meldet der behandelnde Arzt dies an die zuständige Berufsgenossenschaft, die ihrerseits bei der Krankenversicherung des Betroffenen, seinen Ärzten und früheren Arbeitgebern Auskünfte über ihn einholt.
Die BK 1317 zeigt allerdings, wie problematisch das Verfahren mitunter sein kann. Denn als Grundlage der Begutachtung diente lange Zeit ein Merkblatt, das erhebliche medizinische Falschaussagen enthielt. Das betraf vor allem jene, deren Krankheit fortschritt, obwohl sie auf der Arbeit schon längere Zeit keinen Kontakt mit Lösungsmitteln mehr hatten. In diesen Fällen könne es sich nicht um Symptome der BK 1317 handeln, hieß es im Merkblatt - eine Aussage, die medizinische Untersuchungsergebnisse ins Gegenteil verkehrten. Tatsächlich ist das Fortschreiten des Krankheitsbilds ein Symptom für die BK 1317.
Zwischen 1997 und 2006 wurde über insgesamt 2.426 Fälle von BK 1317 entschieden - aber nur 81 Antragsteller, 3,3 Prozent, bekamen eine Rente zugesprochen. "Das alte Merkblatt mit seiner Falschdarstellung der Erkrankung hat demnach effektiv gewirkt", sagt Tino Merz, Sachverständiger für Umweltfragen.
Immerhin: Der Skandal blieb nicht unbemerkt. "Wir haben das Merkblatt zur BK 1317 überprüft und festgestellt, dass es wissenschaftlich unhaltbar war", sagt Peter Röder von der Initiative kritischer Umweltgeschädigter e. V. "Schließlich konnten wir darauf hinwirken, dass das Merkblatt durch den Sachverständigenbeirat der Bundesregierung überprüft wurde." Dieser bestätigte im Jahr 2005 die Vorbehalte und korrigierte das Merkblatt.
Horst Gärtner verhalf dies zu seinem Recht. Der ehemalige Mechaniker hat in der linken Körperhälfte kein Gefühl mehr, auch nicht im rechten Bein bis zum Knie hoch. Im Jahr 2006 wurden seine Leiden vor dem Landessozialgericht Potsdam als Berufskrankheit 1317 anerkannt. Dabei hatte er seine Rente bereits in den Neunzigerjahren sicher geglaubt. Ein Wechsel der Zuständigkeiten zwischen den Berufsgenossenschaften führte jedoch dazu, dass sein Fall erneut verhandelt wurde. Unter Berufung auf das alte, fehlerhafte Merkblatt wurde sein Rentenbescheid 1999 zurückgenommen. "Über zehn Jahre hat es gedauert, bis meine Ansprüche anerkannt wurden", sagt Gärtner.
Mit den neuen Grundlagen für die Begutachtung sahen die Berufsgenossenschaften eine größere Zahl von teuren Behandlungen und Renten auf sich zu kommen. Inzwischen scheinen sie einen Weg gefunden zu haben, dies zu umgehen. Ihr Mittel: der Berufskrankheiten-Report.
Anders als das Merkblatt ist ein solcher Report kein amtliches Dokument, sondern wird von der gesetzlichen Unfallversicherung (früher: Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften) als ausführliche Richtlinie für ihre Gutachter herausgegeben. Nach der Novellierung des Merkblattes war auch der Report zurückgezogen worden. Letztes Jahr erschien ein neuer Report. "Aber darin finden sich die Inhalte des alten, von uns als gefälscht bezeichneten und vom Sachverständigenbeirat kassierten Merkblatts und des alten BK-Reports wieder", sagt Betroffenensprecher Röder.
Die Autoren dieses Reports hätten die medizinischen Erkenntnisse ignoriert. So behaupteten sie, dass nur noch zwei Lösungsmittel als Auslöser für die Nervenkrankheit Polyneuropathie in Frage kämen. "Diese Aussage ist absurd und wissenschaftlich unhaltbar", ist Röder überzeugt.
Seine Kritik wird von anderer Seite bestätigt: "Es gibt über die im BK-Report genannten Lösungsmittel hinaus weitere Stoffe, die Polyneuropathie verursachen können, darunter Trichlorethen und Tetrachlorethen", sagt Ulrich Bolm-Audorff, oberster Gewerbearzt des Landes Hessen und Mitglied des Sachverständigenbeirats des Bundesarbeitsministeriums.
Doch der Trick funktioniert - auch in Verfahren vor den Sozialgerichten. So im Fall von Karl-Heinz Srock. Er kann nichts riechen und nichts schmecken, ist vergesslich und kann sich kaum konzentrieren. Außerdem hat der 68-Jährige starke Schmerzen in den Beinen. Der frühere Betriebsmonteur war jahrzehntelang giftigen Lösemittel ausgesetzt: "Mein Mann kam früher oft mit Kunststoffklebern in Berührung", erläutert seine Frau Marlies Srock. 1997 ist er erkrankt. Seitdem kämpft das Ehepaar darum, dass Srocks Leiden als Berufskrankheit anerkannt wird. Zuletzt befasste sich das Sozialgericht Köln mit dem Fall. Die Verhandlung dauerte 15 Minuten. Srocks Klage wurde abgewiesen. "Laut Merkblatt hätte die Berufskrankheit anerkannt werden müssen", sagt Marlies Srock. "Doch das Gericht folgte der Argumentation des BG-Gutachters. Das Merkblatt sei unklar formuliert und somit unwissenschaftlich, gemäß BG-Report der Berufsgenossenschaft könne kein Zusammenhang zwischen den Leiden meines Mannes und seiner beruflichen Tätigkeit hergestellt werden."
Das Problem liegt aber nicht allein bei den Berufsgenossenschaften, sondern ebenso bei den Behörden. Denn der Sachverständigenbeirat beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales, der das Merkblatt verfasst hat, sollte ein gerechtes Verfahren garantieren können. Die Kontrolle versagt offensichtlich. Doch Details zu prüfen ist fast unmöglich. Das Ministerium liefert nicht einmal eine Liste darüber, wer alles in dem Gremium sitzt. Die Sitzungsprotokolle werden als vertraulich behandelt: "Die Mitglieder des Beirats sind nicht berechtigt, über Beratungsinhalte Auskünfte zu erteilen, da es sich um ein internes Gremium des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales handelt. Dies gilt sowohl für laufende wie für abgeschlossene Beratungen", lautete die Antwort des Ministeriumssprechers auf eine Anfrage der taz. Und weiter: "Das Gremium kennt keine Verantwortlichkeit einzelner Mitglieder."
"Die Vorgänge um den Sachverständigenbeirat beim Arbeitsministerium haben gezeigt, dass Gremien, die ohne Kontrolle der Öffentlichkeit arbeiten, offensichtlich leicht zu manipulieren sind", sagt Merz. Er fordert, dass diese Gremien öffentlich tagen und dass die Sitzungsprotokolle für alle einsehbar sind. Nur so könne die wissenschaftliche Qualität gesichert werden, und nur so könnten die Berufskranken zu ihrem Recht kommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag