DIE WAHRHEIT: Dr. Brown sein Magic Tune
Wo will nur dieser riesige Saxofonkoffer mit mir hin? Hilfe! Er steuert nach Salzgitter, einer Stadt, die aussieht wie ein umgestürzter Architektenmülleimer.
W o will nur dieser riesige Saxofonkoffer mit mir hin? Hilfe! Er steuert nach Salzgitter, einer Stadt, die aussieht wie ein umgestürzter Architektenmülleimer. Ach was, Stadt, ein Zwangszusammenschluss von depressionalen Fußgängerzonen und netten Dörfern, die nicht schnell genug entkommen konnten. Aber mir bleibt keine Zeit für ein gepflegtes Städte-Bashing, denn ich reise zum Jazz-Rock-Workshop. Für Eingeweihte seit 27 Jahren der Hammer, für mich ganz neu. Mein Sax findet es mit mir allein zu langweilig. Immer die öden Tonleitern.
Es ist dann sehr überrascht, den Workshop mit Tonleitern beginnen zu müssen. Der Dozent jagt uns durch die Skalen, damit wir schnell einsehen, dass wir nix können. Ich kriege schon nach dem Einspielen keine Luft mehr. „Versuch einfach nicht, gut zu spielen, das wird ein Eigentor“, rät der freundliche Könner. Aha. „Etwas mehr Scheißegalhaltung würde dir guttun.“ Die würde mein Leben sonst auch bereichern, aber scheißegal ist nicht meine Stärke.
Nachdem mich der nette Mann bereits am Vormittag komplett erledigt hat, beginnt der eigentliche Spaß erst am Nachmittag: die Workshop-Bands. Mein Bandleader, nennen wir ihn „Uns Uwe“, muss nun sieben Bläser und zwei Schlagzeuger mit einem Percussionisten, einem Gitarristen, zwei Keyboarderinnen und gar keinem Bassisten unter einen Hut bringen. Huch, da ist ja auch noch eine Sängerin. Und ein Sänger mit Mundharmonika. Was wird das nur? Ein Potpourri mit dem Titel „Gut gemeint ist halb verloren“?
Zwischendurch gibt es zur Stärkung Wurst, Braten, Wurst, Schaschlik, Wurst, Gulasch und Wurst. „Muckeressen“, sagt zufrieden einer, der sich auskennt. Vegetarier und Memmen müssen in die Fußgängerzone des Grauens ausweichen. Jetzt weiß ich, weshalb der Sax-Dozent auf die Frage „Wie baue ich ein Solo auf?“ bildhaft antwortete: „Wenn ich nur Wurst im Kühlschrank habe, muss ich ein Wurstbrot machen. Man kann ja kein virtuelles Käsebrot schmieren.“
Fünfzehn geniale Musiker in einer Band, die alle Superideen beisteuern wollen und durcheinander schreien, sind, äh, ganz toll. Eine Band mit sieben Bläsern in einem winzigen Übungsraum ist, äh, relativ laut. Die Chance, dass alle fünfzehn begriffen haben, worauf es ankommt, keinen Einsatz vergurken und keine Grütze spielen (um jedenfalls den Vegetarier-Bildvorrat zu seinem Recht kommen zu lassen), beträgt etwa eins zu 15.000. Uns Uwe kann das alles aber nicht erschüttern. Er amüsiert sich prächtig. Wahrscheinlich hat er zuletzt das flammende Inferno dirigiert.
Wir grauenhaften fünfzehn entwickeln mit ihm sogar ein eigenes Stück, das korrekt wohl „Geklaut und neu zusammengesetzt“ heißen müsste, von uns aber lieber „Dr. Brown sein Magic Tune“ genannt wird. Beim Abschlusskonzert nach vier Tagen sind wir dann erstens glücklich und zweitens die absoluten Stars! So wie alle anderen Bands übrigens auch. Nächstes Jahr komme ich auf jeden Fall wieder. Falls mein Saxofon nicht mitreisen möchte, eröffne ich eben einen Käsebrotstand.
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