DIE WAHRHEIT: Parallelwelten mit Angela Merkel
Virtuell kann heutzutage jeder. Die Leute schmücken sich ja mit den schicksten Avataren, auf denen sie nie aussehen wie der Hans Dumm, der sie sind, sondern eher wie Joe Cool.
V irtuell kann heutzutage jeder. Die Leute schmücken sich ja mit den schicksten Avataren, auf denen sie nie aussehen wie der Hans Dumm, der sie sind, sondern eher wie Joe Cool. Da schalten und walten sie im Internet und halten sich für wer weiß was. Ich aber lebe in einer Parallelwelt, die nicht computer-, sondern metaphernerzeugt ist. Das soll mir erst mal jemand nachmachen.
Wenn ich in der Zeitung lese, „Merkel geht in Brüssel mit fliegenden Fahnen unter“, dann sehe ich das vor mir. Das ist grauenhaft. Ein alter großer Holzsegler, so eine Art „Bounty“, Merkelchen im quietschorangefarbenen Blazer, mit Admiralshut auf dem Kopf, am Steuerrad, das sie nicht mehr halten kann. Mast- und Schotbruch überall, hoher Seegang mitten in den Brüsseler Häuserschluchten, zerfetzte Segel. Und fliegende Fahnen selbstverständlich, und dann sinkt das Schiff. Merkel ertrinkt vor meinen Augen, ich kann nichts tun, und bis ich die nächste Nachricht über sie lese, bleibt sie in den Tiefen der Brüsseler See verschollen.
„Merkel diktiert Griechenland die Bedingungen“ – das ist schwierig, aber nicht unlösbar für mein Hirn. Ich sehe ein Klassenzimmer mit zehn Millionen Griechen, alle in Schuluniformen. Am Katheder steht Merkel, diesmal in Fliederfarbe, und sagt an. Die Griechen senken die Köpfchen und schreiben bav mit. Hoffentlich machen sie keine Fehler, sonst muss ich bald „Merkel nimmt sich Griechenland zur Brust“ hirnillustrieren. Wenn sie dann zurückrudert, dabei Federn lässt und Brandbriefe bekommt, erleide ich einen Synapsenkollaps.
All diese Geschehnisse erzeugen ihr eigenes Paralleluniversum. Sprache schafft Wirklichkeit, das ist nun mal so. Leider handelt es sich hier nicht um jene Welt, in der sich verlorene Kugelschreiber und Socken aufhalten, die ich beim nächsten Metaphernanfall gleich einsammeln könnte.
Es ist auch nicht die Wirklichkeit, in der sich der Verbrecher mit dem tätowierten Stern aus „Spiderman 4“ finden ließe, der am Anfang des Films noch furchtbar wichtig ist und später nie wieder vorkommt. Der ist im Universum für Motivations- und Plotfehler zusammen mit vielen kuriosen Nebenfiguren aus allen Zeiten und Genres eingesperrt. Er würde gern endlich verhaftet oder erschossen werden, aber der Regisseur kennt kein Erbarmen.
In „Spiderman 4“ geriet ich jedenfalls, weil ich versehentlich von einer Verjüngungspille gebissen wurde und seitdem immer wieder Pubertistendinge machen muss. Da tut sich noch einmal eine ganz andere Parallelwelt auf, aber Ihr da draußen seid nicht stark genug, davon etwas zu hören.
Metaphern wörtlich nehmen soll übrigens angeblich eine Form von Autismus sein. Ich glaube eher, es ist die Strafe für übermütige Romanautorinnen, die bereits viel zu viele Vergleiche und Bilder in ihren Texten untergebracht haben. Irgendwann schlägt die gequälte Sprache um; dann werden sie von ihr gejagt bis zur chinesischen Mauer. Und das sehe ich jetzt auch wieder vor mir – Hilfe!
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