Boom der Zeitarbeit: Arbeit als Leihgabe
Dass die Arbeitslosenzahl in Deutschland sinkt, liegt auch am Boom der Zeitarbeit. Einst zum Ausgleich von Auftragsschwankungen geschaffen, gehört sie heute zum Alltag.
BERLIN taz Für Felix Weitenhagen ist die Sache klar: "Zeitarbeit ist moderne Sklavenarbeit und gehört abgeschafft", sagt der 29-jährige Schlosser. Er ist Betriebsrat in einem Berliner Elektrounternehmen; zum Treffen mit der taz kommt er in einem blauen Arbeitsanzug. Weitenhagen, der noch regelmäßig an kleinen Anti-Hartz-Demonstrationen teilnimmt, setzt sich für seine Leute ein. Auch für Alexander Schuman (Name geändert), den er mitgebracht hat und der in seinem Betrieb als Leiharbeiter beschäftigt ist.
Jeder vierte neue Job, der hierzulande geschaffen wird, ist ein Zeitarbeitsverhältnis. Im Juni 2006 registrierte die Bundesagentur für Arbeit 600.000 Zeitarbeiter, ein Viertel davon Frauen. Der Bundesverband Zeitarbeit, der nur jene Arbeitgeber berücksichtigt, die überwiegend oder ausschließlich die Überlassung von Arbeitnehmern betreiben, hat im ersten Halbjahr vorigen Jahres 440.000 Zeitarbeiter gezählt, im Jahr 2002 waren es noch 267.000. 60 Prozent aller Zeitarbeiter waren vorher arbeitslos, viele auch langzeitarbeitslos. Die SPD und die IG Metall in Nordrhein-Westfalen kündigten gestern eine Initiative zur Reglementierung der Zeitarbeit an. Unter anderem wollen sie einen gesetzlichen Mindestlohn. ROT
Schuman ist 37, wuchs in einer Brandenburger Kleinstadt auf und hat auf dem Bau gelernt. Seit über einem Jahr arbeitet er in der Produktion von Isolierteilen für Hochspannungsschalter. Rund 1.200 Euro bringt er nach Hause. Vorher, als er im selben Unternehmen zeitlich befristet angestellt war, kam er auf 1.500 Euro. "Im nächsten Sommer kriege ich einen Festvertrag, hat mir mein Meister versprochen", sagt er. An das Versprechen glaubt er nicht und klammert sich dennoch daran. Er wirkt müde. Die Nachtschicht hat ihn aus dem Rhythmus gebracht, in ein paar Stunden wird er wieder am Fließband stehen. "Wenn der Vorarbeiter sagt, dass die Leiharbeiter schneller machen sollen, kann ich mir keine Müdigkeit leisten."
Die Leiharbeit boomt, wie andere Formen der prekären Beschäftigung auch. Befristete Verträge, Honorar- und Minijobs - eine feste unbefristete Stelle zu bekommen, ist unüblich geworden. Trotz der guten Konjunktur wollen sich viele Firmen nicht festlegen, um ihre Mitarbeiter schnell loswerden zu können, wenn das Geschäft mal schlechter läuft.
Die aktuellsten Zahlen der Bundesagentur für Arbeit zum Thema stammen vom Juni vorigen Jahres: 600.000 registrierte Zeitarbeiter waren es damals. Zwischen Mai 2006 und Mai 2007 fanden rund 560.000 Menschen einen neuen Arbeitsplatz - 27 Prozent davon waren Leiharbeiter. Bei 2,3 Prozent aller Beschäftigten handele sich um Zeitarbeit, sagt Ulrich Waschki, der Sprecher der Bundesagentur. Im europäischen Vergleich sei diese Quote noch gering und werde sich weiter anpassen. Einst geschaffen, um Auftragsspitzen in der Produktion abzudecken, tummeln sich Leiharbeiter heute auch in anderen Branchen: in Callcentern, Verlagen, sogar - wie in Berlin - als Erzieherinnen in Kindergärten. Auch Unternehmensberatungen entsenden Managementspezialisten als Leiharbeiter zu ihren Kunden. Und Konzerne gründen Zeitarbeitstöchter, die Leiharbeiter in eigene oder fremde Fabriken schicken. "In meiner Region hat sich im letzten Jahr die Mitarbeiterzahl verdoppelt", sagt Thomas Schmidt, der Betriebsratsvorsitzende des Zwickauer Autovision GmbH, der Zeitarbeitstochter von VW.
Besonders stark ist die Zeitarbeit im Osten angestiegen. Bei BMW Leipzig etwa liegt der Anteil bei 30 Prozent. Die Leiharbeiter sind in sämtlichen Bereichen tätig, vom Band bis zum Büro, wie der Jenaer Soziologe Klaus Dörre festgestellt hat. Und Kerstin Schulzendorf, Betriebsrätin bei Infineon in Dresden, klagt, dass die Leiharbeit als "dauerhafte Form eingesetzt" werde und zulasten "regulärer Arbeitsplätze" gehe.
Für diesen Boom gibt es zwei Gründe: Zum einen der allgemeine Aufschwung, der dazu führt, dass die Unternehmen mehr produzieren und sich dafür die Dienste von Leiharbeitern kaufen. Der andere Grund ist struktureller Natur. Durch die Novellierung des so genannten Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, die die rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2003 beschloss, sei die Leiharbeit erst richtig attraktiv geworden, kritisiert der Bundestagsabgeordnete Werner Dreibus von der Linkspartei. Seither könnten Leiharbeiter unbefristet in einem Betrieb eingesetzt werden. Zudem dürfe ihr Lohn bei gleicher Arbeit von dem der Stammbelegschaft abweichen, wenn entsprechende Tarifverträge existierten. Und mit den Hartz-Gesetzen würden Arbeitslose viel eher dazu gezwungen, schlechter bezahlte und weniger qualifizierte Jobs anzunehmen. In den Jahren 2004 und 2005 sei die Zeitarbeit eher strukturbedingt angestiegen, danach eher konjunkturbedingt, bestätigt auch Thomas Läpple, der Sprecher des Bundesverbandes Zeitarbeit (BZA).
Dabei ist für die Betriebe der Einsatz von Leiharbeitern nicht oder nicht wesentlich billiger, weil die Vermittlungsfirma ordentlich kassiert. Dennoch lohnt es sich, weil Leiharbeiter nur geordert und bezahlt werden, wenn man sie braucht. Zudem spart die Firma den Aufwand für Rekrutierung und Verwaltung.
"Wir sorgen für die nötige Flexibilität, um Auftragsspitzen abzuarbeiten", sagt BZA-Sprecher Läpple. Dass festangestellte Mitarbeiter ersetzt würden, glaubt er nicht. "Die Unternehmen werden auch künftig gute Mitarbeiter fest an sich binden." Dazu seien sie schon durch die demografische Entwicklung und den Mangel an qualifiziertem Personal gezwungen. Auch Agentur-Sprecher Waschki sieht in der Zeitarbeit Chancen. "Für uns ist sie eine reguläre Beschäftigung" und allemal besser als Arbeitslosigkeit. Zudem gebe es den "Klebeeffekt", das heißt, Zeitarbeiter würden von den Betrieben übernommen, selbst wenn sich dies schwer quantifizieren ließe.
Felix Weitenhagen widerspricht dem heftig. "Zeitarbeit schafft keine Arbeitsplätze, sondern vernichtet welche." Denn die Ausweitung der Produktion werde allein durch Leiharbeit bewerkstelligt. In seiner Firma arbeiteten 2.800 Menschen, davon rund 600 Leiharbeiter. Dies spalte auch die Belegschaft. Schuman, der Leiharbeiter, nickt. "Oft fühle ich mich als Arbeiter zweiter Klasse", erzählt er. Die Festangestellten hätten das Sagen, und das ließen sie die Leiharbeiter auch spüren.
Betriebsrat Weitenhagen möchte diese Spaltung überwinden. "Wir sind alle Kollegen einer Firma." Das sehen nicht alle Betriebsräte so. Manche betrachten die Leiharbeiter als Konkurrenz, die die Arbeitsnormen erhöhen, andere sehen sie als willkommene Lückenbüßer, die die Stammbelegschaften vor zu hohen Anforderungen schützen. In der Praxis funktioniert dies aber immer weniger, konstatieren viele Betriebsräte. "Die Leiharbeit verschärft die Arbeitshetze, und die Stammbelegschaft gerät unter Druck", sagt Weitenhagen. So seien in seinem Unternehmen die vorgegebene Stückzahl in der Gießerei durch die Leiharbeit erhöht und das Schichtsystem ausgeweitet worden. Und die Leiharbeit berge eine weitere Gefahr: "Die Gewerkschaften verlieren ihre Streikfähigkeit, wenn am Band überwiegen Zeitarbeiter stehen."
"Zeitarbeit stellt grundsätzlich keine Bedrohung für Stammarbeitskräfte dar", hält der Zeitarbeitsexperte der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Rainer Huke, dem entgegen. So sei die durchschnittliche Verweildauer eines Zeitarbeitnehmers im entleihenden Unternehmen in den letzten Jahren gesunken. Verschärfte Arbeitsbedingungen durch Leiharbeit könne allenfalls in Einzelfällen möglich sein. "In der Fläche ist das nicht zu beobachten." Allerdings könne der Einsatz von Leiharbeitern im Betrieb durchaus zu Spannungen führen, räumt er ein. Zeitarbeiter seien meist hochmotiviert, da sie auf eine Festanstellung hofften. Dies könnten Stammkräfte als Bedrohung empfinden. "Unternehmen können das aber nicht bewusst steuern."
Die Leiharbeit verschärft die Arbeitsbedingungen, meint hingegen Rainer Butenschön. Er ist Betriebsratsvorsitzender bei der Verlagsgruppe Madsack aus Hannover. In der Medienbranche boome die prekäre Beschäftigung, auch die um ein Drittel schlechter bezahlte Leiharbeit. Die Kollegen versuchten sich anzupassen und verlören dadurch ihre journalistische Unabhängigkeit. Es herrsche "ein Klima der Angst."
"Schon eine geringe Anzahl von Zeitarbeitern hat einen disziplinierenden Effekt auf die Stammbelegschaften", ergänzt Beate Voigt. Seit 1990 ist sie Leiharbeiterin und mittlerweile Betriebsrätin der Region Ost der Zeitarbeitsfirma Randstad. Für die Zeitarbeiter hat sie ein Ziel: "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit zu gleichen Bedingungen." Sinnvoll dafür sei ein Mindestlohn. "Der kann zwar keine Niedriglöhne verhindern, aber wenigsten eine Haltelinie ziehen." Von einer Befristung der Einsatzzeiten verspricht sie sich allerdings nichts: "Dann würden sich nur die Zeitarbeiter die Klinke in die Hand geben."
Leiharbeiter Schuman würde eine solche Regelung begrüßen. Dann hätte er eher Chancen auf einen festen Job, glaubt er. Er will aus seiner Wohnung ausziehen, die er ein "Loch in Neukölln" nennt, findet aber keine neue Wohnung. "Die Vermieter wollen sehen, dass man eine richtige Arbeit hat."
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