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Lothar Matthäus: Ausweichen als Prinzip

Der deutsche Abwehrchef spielte gegen England, wie sein Teamchef Erich Ribbeck redet: Abtauchen, wenn es darauf ankommt

CHARLEROI taz ■ Drei Minuten vor dem Anpfiff ein kleiner Schreck. Die Nationalhymne läuft, Matthäus fasst sich an den Oberschenkel. Würde etwa schon wieder eine der 39,24-jährigen Muskelfasern streiken? Schon beim Strammstehen jetzt, vom Singen? Es geht gut.

In der 77. Minute, als Deutschland letztmalig auswechselte, hatte Lothar Matthäus sein ehrgeiziges persönliches Ziel erreicht: Er durfte durchspielen. Volle 90 Minuten, erstmals seit längerem also keine Altersteilzeit. Und der Ewige hatte gespielt, wie sein Mentor Erich Ribbeck redet: sich als Brennpunktflüchter immer aus allem raushalten. Ausweichen als Prinzip – der eine den Zweikämpfen, der andere kritischen Fragen. Abtauchen, wenn es drauf ankommt, in der Tiefe des Raumes oder im Dickicht des vagen Wortes. Hier: andere arbeiten lassen, führerhaft herumscheuchen und das Spielgeschehen meist aus sicherer Warte beobachten; dort: Nullsätze produzieren und Konzeptlosigkeit kaschieren.

Das Tor: Abwehrchef Matthäus, der angetreten war, den Kritikern „das Maul zu stopfen“, steht beim Freistoß im Nirgendwo. Nicht in der Mauer, um Beckhams Freistoß zu blocken. Nicht im Abwehrzentrum, wo Shearer wartet. Er verfolgt nur staunend des Balles kunstvollen Flug. Matthäus ging auch stets dorthin, wo kein Laufduell drohte. Bei eigenen Angriffen stets weit hinter dem Defensivverbund. Wurde er da angespielt, konnte er scheinglänzen: Ball annehmen, zur Seite weiterleiten. Selten wurde eine Statistik deutlicher ad absurdum geführt: Wahrscheinlich hatte Matthäus die meisten Ballkontakte (so wie Erich Ribbeck mit seinen weitschweifenden Statements die meisten Wortkontakte hat), wahrscheinlich machte Matthäus auch die wenigsten Fehler, aber er konnte keine Impulse setzen. Schon gar nicht mehr in der Schlussphase, wo es drauf angekommen wäre. Und er stattdessen ausgepumpt und nutzlos durch seine schiere Existenz in der deutschen Zehn+Eins einen Platz blockierte.

Matthäus habe „seine Leistung gebracht“, sagte Ribbeck nibelungentreuenfest. Sein Lodda sei „kein Leader“ gewesen, aber „auch kein Loser“. Und, mit dem hilflosen Hilferuf des trainernden Konditormeisters: Wer nach neuem Führungsspieler rufe, „soll uns einen backen“. Beide stehen sie vor dem Ende ihrer Karriere. Der eine muss für das Geschichtsbuch morgen noch die 150 Länderspiele voll kriegen und tritt dann vielleicht wirklich ab, der andere . . . Ja, was der eigentlich? BERND MÜLLENDER

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