ARD-Doku „Ein deutscher Boxer“: Das Schweigen des Boxers
Baracke, Boxring, RAF: Mit der Dokumentation „Ein deutscher Boxer“ (23.45 Uhr, ARD) über Charly Graf legt Eric Friedler ein faszinierendes Sportler- und Gesellschaftsporträt vor.
Die Geschichte klingt ein bisschen nach einem zu Recht gefloppten, weil viel zu unglaubwürdig angelegten Kinofilm mit Sylvester Stallone: 1984 wird ein Häftling in einem Polizeiwagen vom Knast in eine Sporthalle gebracht und tritt dort vor begeisterten Zuschauern zu einem Profikampf im Schwergewichtsboxen an. Der unter anderem wegen Zuhälterei und Glücksspiel einsitzende Boxer gewinnt, wird ein Jahr später Deutscher Meister – und beendet kurze Zeit später seine Karriere, nachdem er in einem vermutlich verschobenen Kampf um seinen Titel gebracht wurde.
Dieses Drama entstammt keinem Drehbuch, es hat sich wirklich so ereignet. Der Boxer heißt Charles „Charly“ Graf, und diese Episode ist nicht die einzige bemerkenswerte Begebenheit aus dem Leben des heute 60-Jährigen. Grimme-Preisträger Eric Friedler („Der Sturz – Honeckers Ende“) erzählt in seinem 90-Minüter „Ein deutscher Boxer“ von Graf – und aus der Frühphase der Bundesrepublik.
„Die Biografie von Charly Graf lässt ein Deutschland vor unseren Augen entstehen, das im öffentlichen Bewusstsein längst vergessen ist“, sagt Eric Friedler. „Es ist das Deutschland der 50er- und 60er-Jahre, in dem vieles vom Krieg zerstört ist, die Alliierten sehr präsent sind und das politische Klima noch vom Nationalsozialismus geprägt ist.“
Aufgewachsen in den Benz-Baracken
Graf kommt 1951 in Mannheim als Sohn einer deutschen Arbeiterin und eines schwarzen US-Soldaten zur Welt. Sein Vater lässt die Familie früh im Stich und geht zurück in die USA, Graf und seine Mutter leben in ärmlichsten Verhältnissen in den Benz-Baracken, in denen es damals ungefähr so aussieht wie in der New Yorker Bronx der 70er-Jahre.
Der Junge ist als schwarzer Deutscher dem Rassismus der Nachkriegsgesellschaft ausgeliefert: In der Schule will niemand neben ihm sitzen, seine Boxtrainer erklären ihm, dass er zu einer anderen Rasse gehört. Aber er kämpft sich durch und gibt 1969 sein Debüt als Profiboxer. Nach seiner ersten Niederlage rutscht er ins Rotlicht-Milieu ab, sitzt später insgesamt zehn Jahre hinter Gittern.
In der JVA Stuttgart-Stammheim macht er eine folgenschwere Bekanntschaft: Beim Hofgang freundet er sich mit dem RAF-Mann Peter-Jürgen Boock an. Der macht Graf mit Literatur vertraut und ermuntert ihn, wieder in den Ring zu steigen. Der schmächtige Terrorist wird zu einem der wichtigsten Menschen im Leben des Rotlicht-Riesen – eine seltsamere Freundschaft ist kaum vorstellbar.
Charly ist der größte
Die größte Stärke der Produktion sind die Interviewpassagen mit Charly Graf. Üblicherweise werden für Dokus die Pausen, die Interviewte bei ihren Ausführungen machen, nicht gezeigt – die Zuschauer werden sonst unruhig, wird vermutet. Friedler zeigt sie. Man sieht also, wie der Ex-Boxer mit sich ringt, nach Worten sucht, wie es in ihm arbeitet.
„Sein Schweigen hat genauso viel Bedeutung wie die Worte, die er wählt“, sagt Friedler „Man sieht in seinen Augen seine ganze Lebensgeschichte, er geht in vielen Momenten noch einmal durch die Hölle – hätte ich das Schweigen weggeschnitten, hätte ich ein Verbrechen an der Geschichte begangen.“ Nach dem Schweigen offenbart Graf im nuscheligen Mannheimerisch seine tiefsten Gefühle, rekapituliert die wichtigsten Phasen seines Lebens – und spricht Sätze, die bewegen. Analytisch und selbstkritisch.
Zum Schluss hat Friedler auch noch das Glück, dass ein weiterer seiner Protagonisten der Doku ein spektakuläres Finale verschafft. Thomas Classen heißt der Boxer, gegen den Charly Graf seinen letzten Kampf verlor, und auch Classen ist nicht entgangen, dass damals wohl nicht alles mit rechten Dingen zuging. Er reist nach Mannheim und überreicht Graf mit den Worten „Du bist der wahre Champion“ die Meisterschale, die Graf damals genommen wurde. „Classen ist ein großer Sportler und wollte wohl schon länger etwas Gerechtigkeit walten lassen“, sagt Eric Friedler. „Für mich als Dokumentarfilmer war das ein großer Moment.“
„Ein deutscher Boxer“: 23.45 Uhr, ARD
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