: Alle Kröter liegen immer
Zu Gast bei einem Linguistenvon GABRIELE GOETTLE
Das FalscheEin Freund von mir, Ost-Berlin, Leizpiger Straße.Deutsche Akademie, hat der Forschung unlängstein vollkommen neues Feld eröffnet:die Fehlerlinguistik. Ja,da hätte man viel zu tun. (...)(H. M. Enzensberger, 1979)
Manfred Bierwisch, Prof. Dr. phil., Dr. h.c., emer. ordentl. Prof. f. Linguistik, Leiter d. Arbeitsgr. Strukturelle Grammatik a. d. Humboldt Univ. Berlin. Diss. 1961 („Morphologie des deutschen Verbalsystems“), Habil. 1981 („Die Integration autonomer Systeme – Überlegungen zur kognitiven Linguistik“). 1962 – 1973 Mitarbeit. d. Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik a. d. Akademie d. Wissenschaften z. Berlin (DDR), 1973 – 1980 Mitarb. d. Zentralinstit. f. Sprachwissensch. d. Akad. d. Wissensch. zu Berlin (DDR). 1981 – 1991 Leit. d. Forschungsgr. Kognit. Liguistik ebd., 1985 Ernenn. z. Prof. d. Linguistik a. d. Akad. d. Wiss. zu Berlin (DDR), 1992 Leiter d. Max-Planck-Arbeitsgruppe Strukturelle Grammatik a. d. Humb. Univ. Berl., 1993 Berufung z. ordentl. Prof. ebd., Hg. u. a. d. Schriftenreihe „Studia grammatica“ (1962 – 1973, seit 1987), div. Veröff. u. a. „Words in the Brain arn’t just Labelled Concepts. Comments on Friedemann Pulvermüller’s ,Words in the Brain’s Language‘ “. In: Brain and Behavioral Sciences 22, Cambridge University Press 1999, „Probleme und Rätsel der natürlichen Sprache“. In: Berichte und Abhandlungen, Bd. 7, Berl.-Brand. Akad. d. Wiss., Berl. 1999. Div. Ausz. u. Ehr. u. a. 1965 Aktivist d. sozial. Arbeit, 1979 Honorary Member of the Linguistic Society of America, 1985 Auswärt. Mitgl. d. Max-Planck-Ges. 1990, Mitbegr. u. Vors. d. Ges. f. Sprachwiss., 1992 Gründungsmitgl. d. Berl. Brand. Akad. d. Wiss., 1993 – 1998 deren Vizepräsident, 1993 Mitgl. d. Präsidiums d. Goethe-Inst. Manfred Bierwisch wurde 1930 i. Halle/Saale geb. u. ist verh. mit der Linguistin Judith Macheiner.
Die Hauptarbeitsgebiete von Professor Bierwisch sind die Analyse der Struktureigenschaft natürlicher Sprachen, insbesondere der Syntax (Satzstruktur) und Semantik (Bedeutungsstruktur), der Sprache als Teil und im Zusammenhang mit der kognitiven Ausstattung des Menschen, sowie Einzelanalysen zur Organisation lexikalischer Information und zu Strukturbildungsprozessen des Deutschen. Er hat in fast allen Gebieten seines Faches gearbeitet und publiziert, fachübergreifend besonders in der Psycho- und Neurolinguistik. Zugleich ist er ein Meister der akribischen Kleinarbeit, er hat nicht nur einen 40 Seiten langen Aufsatz über das Wort DOCH geschrieben, sondern auch seiner Leidenschaft für Partikel in mehreren Aufsätzen über das AUCH und das WIEDER gefrönt, denn, so erklärt er: „Bis jetzt hat noch kein Linguist abschließend befriedigend beschrieben, was ein zweijähriges Kind mit AUCH richtig macht.“ Das ist also sozusagen die Basisseite des Forschers Bierwisch, der besser als jeder andere weiß, was mit dem DOCH passiert, und dann gibt es noch die philosophische Seite, wo er nicht nur die Frage stellt, wie ist Sprache entstanden, wie und unter welchen Bedingungen funktioniert sie überhaupt, sondern zugleich auch die Frage nach der Erklärbarkeit der Welt.
Diese Frage spielt in seinem Leben eine wichtige Rolle. Mit Uwe Johnson, zu dem er ein inniges, fünfundzwanzig Jahre andauerndes Freundschaftsverhältnis hatte bis zum Bruch 1980, gab es schon in den 50er-Jahren heftige Debatten darüber, ob Bewusstsein an seine Inhalte gebunden ist und grundsätzlich erkennbar oder ob es sich dem letztlich entzieht. Johnson hat sogar darauf bestanden, einen Vertrag zu schließen, in dem festgeschrieben wurde, dass das Erkennbare nicht das Erkannte sei, dass die Erklärbarkeit der Welt noch nicht heißt, dass sie erklärt ist. Dieser Vertrag hatte auch die Funktion, wirklichen Streit zu schlichten, denn Johnson bestand auf seiner Vorliebe fürs Rätselhafte und Unerklärte, während Bierwisch störrisch und beharrlich das Rationale vertrat und die Möglichkeit, ihr Funktionieren zu erklären.
Manfred Bierwisch studierte im Nachkriegsdeutschland in den 50er-Jahren Germanistik an der Universität Leipzig. Dort lehrten damals so außergewöhnliche und herausragende Persönlichkeiten wie der Philosoph Ernst Bloch und der Literaturwissenschaftler Hans Mayer. Beide waren zurückgekehrte jüdische Emigranten, beide gerieten später aufgrund ihres eigenständigen marxistischen Wissenschaftsbegriffs in starke Konflikte mit der Partei, beide verließen die DDR. Auch Manfred Bierwisch machte schon früh Bekanntschaft mit den herrschenden Spielregeln. 1952 wurde er erwischt bei der unerlaubten Mitführung mehrerer Hefte des Monat, einer literarischen Zeitschrift aus Frankfurt am Main. Er wurde dafür, „wegen Gefährdung des Friedens des deutschen Volkes und der Welt“ durch „Boykotthetze“, zu einer eineinhalbjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Zehn Monate davon saß er ab. Nach dieser Unterbrechung setzte er sein Studium fort, widmete sich den Schriften von Sartre und dem intimen kleinen Freundeskreis, zu dem bald auch Johnson gehörte. Die Freunde diskutierten und spielten sehr viel miteinander, nannten sich James und James, Bela, Jake und Ossian und verkehrten in den engeren Zirkeln um Ernst Bloch und Hans Mayer.
An der Verlegung von Wohnsitzen in die BRD nahm Manfred Bierwisch nicht teil. Er blieb in der DDR. Nicht aus Loyalität, wie Uwe Johnson mutmaßte, sondern wegen der guten Arbeitsbedingungen, so seine Erklärung. Seit 1956 Assistent am Institut für Deutsche Sprache und Literatur an der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, wurde er dort – was einer entscheidenden Weichenstellung gleichkam – 1962 zum Mitarbeiter der Arbeitstelle Strukturelle Grammatik. Initiator dieser Arbeitsstelle war Wolfgang Steinitz, Vertreter der modernen Linguistik in der DDR, zuerst einflussreich, dann zusehends im Konflikt mit dem Politbüro. Steinitz, Jude und glühender Kommunist, hatte im Exil Roman Jakobson kennen gelernt – einen der interessantesten Mitbegründer der strukturalen Linguistik – und später einige der Anregungen und Ideen innerhalb der DDR-Wissenschaftspolitik umsetzen können. So die Erstellung eines Wörterbuchs der Gegenwartssprache und die Erarbeitung einer modernen deutschen Grammatik. Letzterem Projekt verdankte sich die Arbeitstelle Strukturelle Grammatik, die absolut einzigartig war in ganz Deutschland zu diesem Zeitpunkt. Bierwisch erfreute sich eine Zeit lang relativer wissenschaftlicher Freizügigkeit, zu der unter anderem auch Austausch und Zusammentreffen (in der DDR) mit Noam Chomsky gehörte (dem amerikanischen Linguisten und Begründer der Theorie der generativen Grammatik), und auch mit Hans Magnus Enzensberger, den Johnson mitbrachte. So entstand 1965 Bierwischs legendärer Essay für das Strukturalismus-Heft von Enzensbergers „Kursbuch“ (2. Jhg., Nr. 5, 1966). Er trug den Titel: „Strukturalismus, Ergebnisse, Methoden, Probleme“ und gehörte bald zu den obligaten Grundkurstexten, nicht nur für Linguistikstudenten.
Anfang der 70er-Jahre endete fürs Erste die Phase relativer Freizügigkeit durch eine Kampagne der Parteiführung gegen den Strukturalismus als solchen und speziell gegen den in der Sprachwissenschaft. Chomsky, Gegner des Vietnamkrieges, ein radikaler Linker mit marxistisch-anarchistischer Perspektive, galt in der DDR als suspekter Amerikaner mit einer unakzeptablen – weil „biologistischen“ und antisowjetischen – weltanschaulich-philosophischen und politischen Position (auch Wittgenstein galt als suspekt). Auslöser der Kampagne war die Allianz der französischen Kommunisten mit dem Strukturalismus. Ihr Ergebnis war unter anderem die zwangsweise Auflösung der Arbeitsstelle für Strukturelle Grammatik 1973. 1992 wurde Manfred Bierwisch zum Leiter einer Max-Planck-Arbeitsgruppe ernannt, er gab ihr den Namen Strukturelle Grammatik. In der fast 20-jährigen Zwischenzeit konnte er sich trotz einschlägiger Schwierigkeiten und Hindernisse vom exzeptionellsten Linguisten der DDR zum international beachteten und anerkannten Wissenschaftler entwickeln. Ab dem Ende der 70er-Jahre durfte er ausreisen, besuchte internationale Kongresse, machte Vortragsreisen, war zu einem halbjährigen Studienaufenthalt in den USA. Nach 1989 wurde er Mitglied der Planungsgruppe für die Errichtung einer neuen Akademie der Wissenschaften und gehörte als Mitglied der „Strukturkommission“ dem Wissenschaftsrat an, einem Gremium von führenden Wissenschaftlern mit Beratungsfunktion für die Bundesregierung. Die „Strukturkommission“ hatte Empfehlungen und Stellungnahmen zu erarbeiten über den Fortbestand oder die Abwicklung einzelner Institute, Fachbereiche und ganzer Institutionen im Wissenschaftssystem der ehemaligen DDR, mit dem Ziel einer Neugliederung und Vereinheitlichung der Wissenschaftslandschaft nach westlichem Modell.
Herr Professor Bierwisch ist von Ost- nach Westberlin gezogen, ins gutbürgerliche Wilmersdorf an den Rüdesheimer Platz. Von der gleichnamigen U-Bahnstation gelangt man zu einem auf angenehme Weise belebten, rechteckig angelegten Platz mit Parkanlage und vielen umliegenden kleinen Geschäften und Ladenlokalen. Trotz scheinbarer Übersichtlichkeit ist die angegebene Adresse nicht leicht zu finden, anscheinend gibt es die Hausnummer zwei Mal. Ein Anruf klärt den Irrtum auf. Wir verlassen die Telefonzelle, richten den Blick wie befohlen auf das gegenüberliegende Haus und sehen bald darauf weit oben ein sich öffnendes Fenster und eine Gestalt, die sich winkend herausbeugt.
Wenig später stehen wir vor der Wohnungstür einem schlaksigen, hochgewachsenen, leicht bärtigen Herrn gegenüber, der uns mit freundlichen Worten in die Küche führt, wo man, während die Kaffeemaschine ihre Arbeit tut, plaudert und einen Sherry trinkt. Die Küche ist groß und hell. Obgleich sie mit allem ausgestattet zu sein scheint, was man so hat und braucht, macht sie doch einen irgendwie unbenutzten Eindruck. An der Wand hängt ein modernes, mit Acrylfarben gemaltes Bild. Der Künstler gehöre sozusagen zur Familie, erklärt Herr Bierwisch und nennt den Namen. „Der Schwager meiner Frau“, fügt er hinzu und bittet uns ins Wohnzimmer. Im spiegelblanken, gut beleuchteten Flur passieren wir eine kugelförmige, polierte Skulptur aus dunklem Marmor. „Vom Mann meiner verstorbenen Schwester“, sagt Herr Bierwisch lapidar und führt uns durch eine verglaste Doppeltür in einen gut proportionierten Raum. Die Einrichtung ist angenehm fürs Auge, einerseits Biedermeier mit schön gemasertem Holz und andererseits sachlich nüchternes Bücherregal; ein Ohrensessel; an der Wand drei ältere Landschaften in Öl, eine Ansicht von Salzburg, auf den beiden anderen jeweils ein Weg irgendwohin, in warmen Farben. Herr Bierwisch stellt die Kaffeekanne auf dem Tisch ab und ist nach einem kaum merklichen Zögern damit einverstanden, das Arrangement ein wenig durcheinander zu bringen zu Gunsten eines besseren Lichtes beim Fotografieren.
Was ist ein Linguist? Herr Professor Bierwisch lächelt ein wenig, dreht seinen Stift zwischen den Fingern und sagt: „Das gehört zu den Krankheiten, die man als Linguist hat, dass es keine vernünftige Antwort gibt, wenn man erklären soll, was für ein Fach das ist. Die üblichen Partygespräche sind ja ... ‚Ach, Sie sind Linguist, da können Sie wohl viele Sprachen‘ ... ‚Oder ach, Linguist sind Sie, was halten Sie von der Rechtschreibreform‘ ... In dieser Art sind die Standardfragen. Also ich habs mal dem Wolfgang Neuss erklärt – damals, als der mit Havemann zusammenhing, war das – und als ich fertig war, hat er meine Erklärungen kurz und knapp zusammengefasst und gesagt: ‚Aha, du bist also so eine Art Sprachphysiker.‘ Das spricht doch sehr für seine Art von gesundem Menschenverstand – auch wenn man es natürlich nicht auf die Goldwaage legen kann –, aber im Prinzip ist mein Interesse an der Sache tatsächlich so was wie Sprachphysik. Ich will die Strukturen und Gesetzmäßigkeiten wissen, ich bin überzeugt, dass es in der Tat etwas zu erklären gibt. Etwas, das man von dem, was da aus dem Maul rauskommt, zurückführen kann darauf, wie es im Gehirn verursacht wird, und dann wiederum“, Herr Bierwisch klopft, seine Worte rhythmisch untermalend, ab und zu sacht mit dem Stift an sein Sherryglas, „zurückführen kann auf die Tatsache, wie es ins Gehirn reinkommt, und schließlich auf die Frage, wieso unser Gehirn so ist, dass es das kann.“
Wir haben ein kleines Geschenk mitgebracht, unser Versprecherbüchlein, in das wir seit Jahren all die Versprecher notierten, die wir so hörten und beachtenswert fanden. Herr Professor Bierwisch blättert interessiert darin. Er lacht aber nicht erstaunlicherweise über so seltsame Versprecher wie „Entsetzensentwurf“ statt Gesetzesentwurf und „um den Preis unermetzlicher Opfer“ statt unermesslicher Opfer. Dann blickt er uns prüfend an und sagt: „Eine Anspielung auf die Fehlerlinguistik, aha ... Also es ist so, Typ I: das heißt Substitutionsfehler oder Selektionsfehler, ein falsches Element drängelt sich vor und ersetzt das, was man eigentlich sagen wollte. ‚Gefahr im Vollzuge‘ ist so ein Substitutionsfehler, denn es heißt ja nicht Vollzug, sonder Verzug. Typ II heißt: zwei Elemente tauschen. ‚Ich kann nur über Dinge kennen, die ich spreche‘. Also vonTyp I könnte man vereinfacht sagen: ein falscher Kandidat am rechten Platz. Von Typ II muss man sagen: ein richtiger Kandidat am falschen Platz. Und bei Typ III kommen zwei Kandidaten, beide wären akzeptabel, aber nicht beide zugleich, und da wird dann so ein Kompromiss gemacht in Form von Blends. Was man an solchen Sachen sieht – unter anderem –, ist, dass es wirklich einen genau strukturierten Hintergrund gibt, auf dem sozusagen Redeplanung stattfindet. Der Radiosprecher weiß natürlich, was er bei ‚Gefahr im Vollzuge‘ sagen will – Vollzug und Verzug sind beide ordentliche Wörter – er weiß, welches er meint, aber es kommt, und das ist der nächste Punkt, der jetzt interessant ist, auf die eine oder andere Weise ein Irrtum zustande. Man kann ziemlich genau sagen, es gibt eine Struktur, die ist angesprochen worden, und es gibt eine, die war intendiert. Es gibt verschiedene Faktoren, die da im Spiele sind, deshalb ist das längst ein eigenes Thema geworden, und was man untersucht, sind interessante Kausalmechanismen, die dem Reden zugrunde liegen.“
Herr Professor Bierwisch bohrt den Stift ein wenig in die Tischdecke und fährt fort: „Nehmen Sie den: ‚steht im Stiegel oder Sperm‘. Sie haben zwei Journale, Spiegel und Stern, und eine ganze Menge Semantisches gemeinsam, der entscheidende Punkt ist aber, Sie haben zwei Silben – Anlautcluster, die sich nur unterscheiden in dem Verschlusslaut – labial oder dental. Und das ist eine ganze Wortfamilie, in der die Vertauschung vorkommt, die ich vorhin beschrieben habe. Es wird gewissermaßen nur ein Merkmal verwirrt, gar nicht das ganze Segment, es ist nur die Artikulationssstelle für den Verschluss ... Oder: ‚Alle Kröter liegen immer‘. Hab ich registriert. Das ist noch subtiler. Es gibt zwei runde vordere Vokale im Deutschen, ü und ö, die Umlaute, und man braucht den Ü-Laut bei lügen, aber diese vordere Rundung ist gerutscht auf Kröter, wo sie nicht hingehört. Es ist die Kombination – vorne rund – von den hinteren auf den vorderen Buchstaben gerutscht. Das sind so die Fälle“, Herr Bierwisch schlägt rhythmisch ans Glas, „wo dieser Anordnungsmechanismus und das Austauschen sich auf solche rein phonologischen Teile bezieht und ich an solchen Stellen dann auch in die Phonologie komme – ich nenne das nur als Beispiel, ich will nicht den Eindruck erwecken, als hätte ich im wesentlichen mit Versprechern gearbeitet.“
Auf unseren Einwurf, dass unser Lieblingsversprecher „Begangenheitsverwältigung“ sei wegen der umwerfenden Intelligenz dieser Fehlleistung, expliziert Herr Professor Bierwisch: „Also das sind zwei Sachen! Die sind einerseits anschließbar an die Tatsache, dass da ein ... na ja ... unerledigtes Problem besteht, aber sie hängen andererseits damit zusammen, dass da zwei Präfixe Ver- und Be- sind, und der Austausch dieser Präfixe gibt ihnen ein anderes Wort. Es gibt natürlich solche Beispiele, wie Freud sie beschrieben hat, aber sie sind für das, was beim Versprecher passiert, von ziemlich untergeordneter Bedeutung und für den eigentlich interessanteren Teil, nämlich die Positionsfehler, da spielt das nun wirklich keine Rolle. Also die Fälle, wo durch die Verhedderung eine Weisheit höherer Stufe entsteht, die sind vergleichsweise selten. 99-mal passieren irgendwelche Sachen, die haben überhaupt keinen Sinn. Interessant wird das allenfalls in der Form, dass man sagen kann, wir führen da in der Tat zwei Bereiche zusammen. Wir haben einerseits das, was wir über die Mechanik der Artikulationsmotorik zu sagen haben, und die Organisation von grammatischen Sequenzen, was da alles passieren kann – die Aktivierung im Langzeitgedächtnis, das uns die Wörter zur Verfügung stellt –, und dann haben wir Motivationslagen, und die können sich auf verschiedene Weise, legitim oder illegitim, zu bedienen versuchen, denn manchmal sagt man das, was man meint, und manchmal sagt man unwillkürlich, was man meint, aber gar nicht sagen will. Und vieles davon wird einfach überhört, also drei Viertel der Versprecher werden überhört.“
„Übrigens“, sagt Herr Bierwisch nach kurzem Schweigen, „eine von den wirklich faszinierenden Feststellungen ist, dass so ziemlich dasselbe auch in der ‚sign-language‘ passiert, also in der Zeichen- oder Gebärdensprache. Die Positionsfehler sind ein bisschen anders, kommen weniger vor und spielen eine andere Rolle. Aber die Selektion, und die nun wiederum moduliert durch die andere Art der Artikulation – also Nachbarschaft der Position –, spielt eine andere Rolle als die Abfolge von Segmenten in einem Wort. Aber das Versprechen in Zeichensprache ist ein ganz analoges Phänomen. Es ist eine der kumulierenden Motivationen, dass das eine Sprache ist, die auf derselben Basis aufsitzt wie die Lautsprache (kling, kling ...). Die Linguistik ist ein spannendes Fach! In den letzten dreißig Jahren ist da viel passiert in Bezug auf solche vorher eher trüben Randphänomene. Der Kern der Sache ist, diese Zeichensprachen haben alle Eigenschaften von natürlicher gesprochener Sprache. Man hat nicht nur Wörter oder genaue Äquivalente davon, sondern man hat auch das, was also Wortbildung und Flexionsform tun, also dass wir Tempus und Kasus durch Flexion kenntlich machen. Es gibt inzwischen ‚sign-language-phonology‘. Phonologie, weil das die Ebene der Sprachstruktur ist, die lautlich realisiert und akustisch aufgenommen wird. Dem entspricht das, was man mit der Stellung von Hand und Fingern macht und mit der Haltung der Hand, es sind genau dieselben Möglichkeiten von Unterscheidung. Nur kann sich’s eben nicht auf das beziehen, was im Gehirn fürs Velum programmiert ist, für Lippen und Zunge, sondern auf die Fähigkeit, Handzeichen zu machen und zu unterscheiden. Also insofern sind die ‚allgemeinen Lautgesetze‘ schon nicht mehr allgemein – man muss ‚allgemeine Strukturgesetze der Zeichenformen‘ sagen.“ (Das Kling-kling ... ertönt verhalten.) Herr Professor Bierwisch schaut versonnen seinen Stift an: „Wir hatten eine Freundin damals, die war Lehrerin an einer Taubstummenschule und erzählte, dass alle nasenlang sich die Zeichen ändern. Die Bedeutung wurde mir erst später klar. Zeichensprachen werden ja nicht aufgeschrieben, und ein Teil der Stabilität, die also Zivilisationssprachen haben, liegt daran, dass die Schriftform eine ungeheure Trägheit erzeugt. Ohne die Schriftform wäre der Umschichtungsprozess im Vokabular wohl sehr viel rapider. In diesem Sinne sind die Zeichensprachen im Zustand der Wildwüchsigkeit geblieben. Man hatte sie bis dahin nicht ernst genommen, jetzt erst werden Notationen gemacht, aber das wird nie den Charakter von geschriebener Sprache oder Schriftdokumentation annehmen. Dazu ist es viel zu schwierig.“
Wir möchten gerne noch etwas wissen über seine Beschäftigung mit der Psycholinguistik. „Sie meinen jetzt Nijmegen, vermute ich“, sagt Herr Professor Bierwisch. „Also dieses Max-Planck-Institut für Psycholinguistik, das wurde 1979 initiiert, und die hatten dann eine Projektprobephase unter strengen Voraussetzungen. Psycholinguistik, das heißt die Linguistik und die psychologischen Mechanismen, die im Spiel sind bei Erwerb, Produktion und Verstehen von Sprache, sind forschend zusammengefasst. Dieses Terrain hat sich enorm vertieft und verbreitert. In Leipzig gibt es ein Max-Planck-Institut für Neuropsychologie, und die haben dort auch eine ausgeprägte Linguistikabteilung. Sie arbeiten noch viel strenger im neurolinguistischen Sinn, sie machen diese Potenzialableitungen – in Nijmegen inzwischen auch, man benutzt riesige Maschinen mittlerweile. Aber in der Zeit, in der ich dort involviert war – ich war ein ganzes Jahr dort in der Phase 1987 bis 1988 und habe mit denen gearbeitet –, da war das noch ganz deutlich psycholinguistisch orientiert. Also wenn man das ernst nimmt mit den neurolinguistischen und neuropsychologischen Sachen, dann muss man sich an diese ERP-Geräte setzen (zur Potenzialmessung der Hirnrinde) und den ganzen institutionellen und apparativen Aufwand treiben. Also aus dem bin ich jetzt wirklich raus, das brauch ich nicht, dazu hab ich keine Lust, denn eine Menge Sachen kann man auch in akkumulierter Kleinarbeit machen. Lange vor Nijmegen – und das gehört in diesen Bereich – habe ich mich mit der Aphasie beschäftigt in der Charité. Zu diesem Thema gibt es ja von Roman Jakobson die Arbeit über ‚Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze‘ von 1941, ein Schlüsselstück der linguistischen Literatur. Natürlich wissen wir inzwischen viel mehr darüber, was beim Spracherwerb passiert, aber Jakobson hat das Problem zu 100 Prozent in der richtigen Richtung vermutet. Er hatte die etwas naive Auffassung, Aphasie, also Verlust der Sprache, gehe im Großen und Ganzen als Rückspulung dessen vor sich, was im Spracherwerb passiert. Aber er hatte auch so schöne Ideen wie die, dass das, was bei der Sprachstörung passiert, also bei Aphasie, sich in große Gruppen teilen lässt, Gruppen von Störungen, die ziemlich genau zu dem gehören, was die ersten beiden Typen von meinen Versprechern ausmacht. Also Selektionsstörungen und Verknüpfungsstörungen bei den Versprechern, und ‚Kontiguität‘ und ‚Kompatibilität‘ waren so seine Kriterien. Und die beiden Hauptaphasietypen sind jeweils ‚Einschläge‘.“ (kling, kling ...)
„In der Charité, das war so Ende der 60er-Jahre, habe ich mit Weigel gearbeitet. Der hatte dort ein Labor, war Schüler von Goldstein und übrigens um ein paar Ecken mit Helene Weigel verwandt – also aus der österreichisch-jüdischen Community – und machte Aphasieforschung. Und eine der Fragestellungen, die mich da reingelockt haben, war: Was eigentlich ist los bei Aphasie, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Linguistik. Das war unglaublich spannend, es gibt ja verschiedene Schädigungen, und die Art der Ausfälle ist von der Lokalität der Schädigung abhängig. Also da gibt es diese so genannte ‚Jargon-Aphasie‘, die Leute reden wie ein Wasserfall, und aus einiger Entfernung hört sich das ungeheuer eloquent an, aber aus der Nähe hört man dann, dass die Rede keinen Zusammenhang hat. Und da gibt es umgekehrt die motorischen Aphatiker und die agrammatischen Aphatiker, die wissen ziemlich genau, was sie sagen wollen, sie kriegen es aber nicht raus. Ich habe die Patienten ja nur sporadisch gesehen, aber ich weiß – und das ist das, was man sowohl als Forscher wie auch als Therapeut von sich halten muss –, was das für unglaubliche Belastungen und Quälereien sind, die der Aphatiker empfindet, der ja genau weiß, was er sagen will, und nicht kann. Und dieser defekte Ausübungsmechanismus und das sprachliche Wissen andererseits führen zu bestimmten Ergebnissen. Der interessante Punkt bei der Aphasie ist, dass man ziemlich weit kommt in der Klärung des Phänomenalbestandes.“
Auf die Frage nach seiner heutigen Ansicht über die Erklärbarkeit der Welt lächelt Herr Professor Bierwisch ein wenig: „Seit damals ist ja einiges hinzugekommen an Erkenntnissen durch die Art, wie Wissenschaft mir klarer geworden ist, und natürlich dadurch, wie sie sich weiterentwickelt hat. Es gibt ja inzwischen eine ganze Reihe von Gebieten, die es damals allenfalls in nuce gab. Die Entschlüssung der DNS, ein riesiger Zuwachs an Wissen. Man kennt nun die Anordnung der Buchstaben, aber noch kann keiner das Buch lesen. Wir sind überzeugt davon, dass da drin steht, wie die Extremitäten, der Blutkreislauf, der Stoffwechsel und das Gehirn funktionieren sollen“, (kling, kling ...) „irgendwann vielleicht wird man es kapieren oder auch nicht, je nach dem, ob unsere Intelligenz ausreicht, ob unser Gehirn – und das ist dann schon fast eine Frage der logischen Beschaffenheit – ob unser Gehirn ein Gehirn begreifen kann, das ist sehr die Frage!“ Auf unseren Einwurf, denkend das Denken zu ergründen, sei wie der Versuch, Blut mit Blut abzuwaschen, hüstelt Herr Professor Bierwisch und fährt fort: „Ja, ja, das ist eine sehr handfeste Formulierung. Ich wollte gerade eine sehr viel technischere Version anbieten: Das berühmte Gödel’sche Gesetz über die Unvollständigkeit der Arithmetik besagt, dass es keinen Beweis dafür gibt, dass die Arithmetik unvollständig ist, das heißt, dass man bestimmte Sachen innerhalb der Arithmetik nicht beweisen kann.“ Herr Professor Bierwisch legt entschlossen den Stift beiseite, stützt die Ellbogen auf den Tisch, bettet sein Kinn auf die übereinandergelegten Hände, lächelt still und sagt: „Also die Tatsache, dass man die Welt erklären kann, ist etwas, was doch weit gehend ein vernünftiger Glaubenssatz ist.“
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