Schneller lesen: Wettrennen im Walzertakt
Kurse versprechen, dass wir doppelt so schnell lesen können, wie wir es in der Schule gelernt haben. Geht das wirklich? Ein Selbstversuch.
BERLIN taz | Am Ende, nach diesen beiden anstrengenden Tagen, werde ich mit nur 10 km/h auf dem Fahrrad nach Hause fahren, aber mit 436 WpM lesen können. WpM, Wörter pro Minute.
Am Anfang sitzen wir in einem büroweißen Seminarraum in Berlin und wollen lernen, wie man schneller liest. Es sind Jurastudenten gekommen, Zivildienstleistende, eine Abiturientin, ein Werber, ein Designer und ein Unidozent. In der Vorstellungsrunde sagen alle, dass sie viel lesen müssen. Ich sage, dass ich bei der sonntaz arbeite und eine Leserin wissen will, ob diese Speed-Reading-Kurse funktionieren. Vor uns liegen Bücher, Stifte und Taschenrechner.
"Das ist kein Speed-Reading-Kurs", sagt Ruth Haplaka. Sie ist die Dozentin und es ist nicht lange her, dass sie selbst eines dieser Viellesefächer studiert hat. Es gehe darum, besser zu lesen. Deshalb heiße der Kurs "Improved Reading". Schnelligkeit sei nur ein Mittel zum Zweck: "Wir streben eine Verdopplung der Leseeffizienz an." Bei einer täglichen Lesezeit von knapp zwei Stunden und einer Steigerung um 25 Prozent sei das ein Gewinn von zehn Tagen im Jahr.
Mir kommt das alles ein bisschen sehr ökonomisch vor.
"Sie werden unglaublich gefordert sein", sagt Ruth Haplaka.
Woran wir arbeiten, lässt sich in drei Worten zusammenfassen: Subvokalisieren, Regression und Chunking. Das Subvokalisieren und die Regression sollen wir uns abgewöhnen. Das Chunking müssen wir lernen.
Was uns aufhält, sagt Haplaka, sind die Absicherungsstrategien. Wir sprechen den Text in Gedanken mit - Subvokalisieren. Wir springen in der Zeile zurück, weil wir denken, wir hätten etwas verpasst - Regression. Und wir lesen jedes Wort einzeln, weil wir das in der Grundschule so gelernt haben. In. Der. Grundschule. Man kann die drei Wörter auf einmal erfassen - Chunking. InderGrundschule. Unsere Augen sollen lernen, von Wortgruppe zu Wortgruppe zu springen.
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Wir müssen unseren Blick trainieren. Unser Hirn, sagt Haplaka, ist schneller als die Augen und die innere Stimme. Wenn wir von Wort zu Wort kriechen, beginnen unsere Gedanken vorauszuflanieren. Irgendwann merken wir, dass wir die zwei Seiten gerade zwar gesehen, aber nicht verstanden haben. Die Geschwindigkeit steigert das Verständnis, sagt Haplaka.
Vorne auf einem Tisch steht eine Digitaluhr mit roten Ziffern. Wir lesen auf Zeit. 200 bis 300 Wörter pro Minute schaffen Ungeübte, 500 bis 600 Speed-Reading-Profis. Dann kreuzen wir in einem Bogen Antworten auf Verständnisfragen an. Wir errechnen die Effective Reading Rate. Die Anzahl der Wörter, die wir verstanden haben.
Der erste Text handelt vom schnellen Lesen. Ich muss mich so sehr konzentrieren, meinen Blick springen zu lassen, hopp, hopp, hopp, dass die Inhalte unbeachtet an mir vorbeischweben. Als ich die ersten schon umblättern höre, werde ich fast panisch. Ich verstehe kaum die Hälfte.
Unser Blick kann eine Spanne von etwa drei bis dreieinhalb Zentimetern erfassen, erzählt Haplaka. So breit sollten die Felder sein, auf denen wir ihn landen lassen, für Sekundenbruchteile. In einem Taschenbuch sind das drei bis fünf Sprünge pro Zeile. Es empfehle sich ein Walzerrhythmus, drei Wortgruppen pro Takt. Einszweidrei, einszweidrei.
"Haben wir heute Abend alle Augenmuskelkater?", fragt Jochen, der Unidozent.
In der Mittagspause fahre ich mit dem Fahrrad nach Hause. Was ich gerade gehört habe, scheint sinnvoll zu sein. Trotzdem widerstrebt es mir. Ist Lesen nicht auch etwas Entspannendes, Sinnliches? Ist es nicht schön, auf den Klang der Worte zu hören? Chunking, Effizienz, Regression. Das klingt nach Business. Das passt zu Mails und zum Wirtschaftsteil. Aber zu einem schönen Roman mit Jasmintee?
Wir können unsere Geschwindigkeit wählen, wird Haplaka darauf antworten. Wer joggt, kann auch einen Waldspaziergang machen. Aber nicht unbedingt andersherum.
Nach der Pause lassen wir unsere Blicke durch Zeilen voller Wortgruppen rasen und versuchen, die Sinneinheiten zu erfassen, nicht einzelne Wörter. Es geht darum, Zeichen zu erkennen. Niemand denke doch "120 durchgestrichen", wenn ein Verkehrsschild das Ende einer Geschwindigkeitsbegrenzung signalisiert, sagt Haplaka. Wir müssen nicht unbedingt "Hundertfünfundzwanzigtausendreihunderteinundsiebzig" denken. Man kann 125.371 mit einem stillen Blick erfassen. 125.391.
Die nächste Stufe. Ruth Haplaka verteilt Rate-Controller. Surrende Geräte, die eine Art Lineal über die Buchseiten schieben und so den Blick antreiben. Anfangs sollen wir nichts verstehen, nur rasen.
Am Abend reiben wir uns die Hände warm und legen sie auf die Augen, zur Entspannung. Wir schauen nach draußen, auf den Kirchturm, den Himmel.
Sie hatte recht, denke ich, es ist anstrengend. Aber es macht Spaß. Auch die anderen murmeln zufrieden. Ein Wettbewerb, wie Rechenspiele in der Schule.
Ich merke, wie ich besser werde. Am zweiten Tag trage ich 100 Prozent in die Spalte "Verständnis" ein. Aber die Fragen sind simpel, Auswahlantworten zum Ankreuzen. Ist das ein gutes Maß für echtes Verstehen? Ich bemühe mich, weiter Zweifel zu haben.
Wenn ich darüber nachdenke, dass ich jetzt schnell sein muss, dann lenkt mich das manchmal vom Text ab. "Entspannen Sie sich", sagt Haplaka. Es klingt absurd, aber es geht. Wir haben das Hetzen so geübt, das mir das normale Lesen komisch vorkommt. Lahm.
Am Ende sollen wir anspruchsvolle eigene Texte lesen und darüber ein Kurzreferat halten. Ich rase los, ein Buch über Googles Macht im Internet. Ich bin erstaunt, wie viel ich behalte.
In zwei, drei Monaten gibt es den Refresher, sagt Haplaka. Einen Auffrischungskurs.
Zu Hause erzähle ich, wie gut alles funktioniert hat. Ich merke, dass ich das Vokabular aus dem Kurs verwende. Ein wenig fühle ich mich gebrainwashed.
In den nächsten Tagen wird mir klar, wie schwer es ist, das Chunking im Alltag beizubehalten. Ich lese viel am Bildschirm. Das ist anstrengend, weil er meine Augen anleuchtet. Ich muss redigieren und korrigieren. Da zählt jeder Buchstabe, nicht nur Sinngruppen. Es fällt mir nicht leicht, bewusst die Geschwindigkeit zu wechseln. Aber morgens, wenn ich die Zeitungen auf unserem Redaktionstisch scanne, ist die Technik nützlich.
Und zwei Monate später beim Refresher stelle ich fest, dass ich genauso schnell bin wie am Ende des Kurses. Es fühlt sich aber weniger anstrengend an.
Einige Tage danach kommt das Zertifikat per Post. Amtliches Lesetempo: 436 WpM. Für einen Text wie diesen bräuchte ich etwas mehr als zwei Minuten. Ohne Jasmintee.
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