die wahrheit: Hysterie in acht Gängen
Selberkochen ist in, Selberaufessen auch, Kreativität beim Lebensmittelkauf ein "Must". Die Devise lautet: keine Angst vor exotischen Namen...
...Nie waren die Deutschen so offen für neue Gaumenfreuden, nie zuvor so bissbegierig wie heute. Dazu haben nicht zuletzt die Medien beigetragen, zum Beispiel mit Fernsehsendungen wie "Das makellose Abendessen bei Leuten, die zum Glück nicht allzu prominent sind und deshalb auch kein schöneres Geschirr haben als ich, und außerdem sehen deren Wohnzimmer genauso kacke aus wie meins" oder mit Zeitschriften wie Hackklops - Männer mögens rund.
Mittlerweile hat die Freude am verwegenen Genuss die teutonischen Futterverwerter geschmackstechnisch nachgerade radikalisiert. Dies jedenfalls meint der Frankfurter Hefekultur- und Philosophiewissenschaftler Jan Orthwien. "Die Stimuli müssen immer raffinierter und verwegener gemischt werden", stellt er fest. "Wo vor zwei, drei Jahren noch der Zimthering mit Affenbrotröstis genügte, muss es jetzt wenigstens eine Pfauenleberwurst mit Blutorangen-Tartar sein." Gastgeber, die nichts Ungewöhnlicheres als ein schmerzfrei entbundenes Spanferkel in Honig-Mandelsplitter-Kruste aufzutischen wissen, laufen Gefahr, mit Flaschentomaten beworfen zu werden.
Orthwien spricht vom "hysterischen Essen". Es gehe Food-Trendsettern inzwischen nicht mehr bloß darum, gesund und fair zu speisen: "Das Essen muss auch emotionale Sensationen auslösen, Synästhesien entfalten. Das notorische ,Bauchgefühl' soll zum Schlag in den Magen werden." Der feine Geist fügt grob hinzu: "Die Kotze nach dem achten Gang hat wenigstens nach Bärlauch zu duften. Liebstöckel geht zur Not aber auch."
"Thrill-Food" wird zum Hit der Saison. So bietet die Supermarktkette Rewe eine Avocado namens "Hass" feil. "Liebenswert lecker" sei sie, obwohl "von Natur runzelig, mit dunkelgrüner bis schwarzer Schale". Besonders "genussreif" sei "Hass", wenn "die Schale auf leichten Druck nachgibt". Ein Schelm übrigens, wer hier an von Natur runzelige, nach eigener Einschätzung liebenswert leckere Hassprediger wie Henryk M. Broder oder Thilo Sarrazin denkt, die schon bei leichtem Druck nachgeben und so tun, als hätten sie ihre Hetzreden gar nicht so gemeint.
Ein Agrarbetrieb aus Mecklenburg-Vorpommern hat indes die Blumenkohlart "Zorn" entwickelt und preist auf seiner Website die "wutgleiche Blässe der Röschen" an. Erdäpfel namens "Paranoia" - Slogan: "Die erste Kartoffel, deren Augen dich sehen!" - schmücken bereits jetzt das Sortiment von Bio-Wochenmärkten. Neben aggressiven Porreesorten wie "Schlagstock" oder "Dildo" fällt eine Pastinake namens "Panik" kaum noch auf.
Selbst vor Karottenzüchtungen in der Furchtfarbe Lila ("mit Vitamin A wie Angstschweiß") oder Paprikaschoten mit eingekreuzten Chilipfeffergenen ("Red torture") schrecken die Designer der Lebensmittelindustrie nicht länger zurück. Die bizarrste Kreation dürfte allerdings "Langeweile" sein, eine Salatgurke, die zu 98 Prozent aus Leitungswasser besteht. Auf Gemüsegroßmärkten wird sie derzeit zu einem Literpreis nicht unter zehn Euro gehandelt. Kritiker argwöhnen allerdings, hier handele es sich um reinen Etikettenschwindel. Schließlich hätten Salatgurken noch nie nach irgendwas geschmeckt.
Die Star-Köche der Republik können sich dem Trend zum "hysterischen Essen" nicht verschließen. Der Hamburger Tim Mälzer etwa experimentiert mit einem Schweinebraten, der zunächst gepökelt, danach geräuchert wird. Serviert werden soll der "versäuchte" (Mälzer) Rippenspeer mit Sauerkraut und Kartoffeln - "eine gewagte Mischung, ich weiß", bekennt der "Rocker" unter Deutschlands Garzeit-Gurus. Gewagt soll auch der Name seiner Fleischspeise sein: "Nordhesse … Oder Hessischfett … Ich überlege noch. Der Braten soll jedenfalls schmecken, wie die Stadt Kassel aussieht!"
Johann Lafer wiederum plant für "hysterische Esser" die "Nachspeis schlechthin": einen Biskuitkuchen mit ungeheuren Mengen Marmelade und Sahne. Besserwisserische Einwände, so was gäbe es doch längst als "Sachertorte", wischt der Österreicher Lafer souverän vom Buffet: "Aber bestimmt nicht mit Rote-Bete-Marmelade!"
Nichts scheint derzeit unmöglich in unseren Küchen. Der Speiseweise Orthwien beruhigt allerdings: "Das Pendel schlägt bald wieder zurück." Und beißt herzhaft in eine Schockwurst, nachdem er sie in etwas Senfgas getunkt hat.
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