Machtkampf in der Türkei: Neue Verfassungskrise droht
In der Türkei tobt ein Machtkampf zwischen Regierung und Justizbehörden. In diesem Jahr könnte es zu vorgezogenen Neuwahlen kommen. Der AKP würde das wohl schaden.
ISTANBUL taz | Ein Verfassungsstreit zwischen der türkischen Regierung und den obersten Justizbehörden droht sich zu einer institutionellen Krise auszuweiten, die zu vorgezogene Neuwahlen führen könnte.
Die oberste Justizbehörde, der neben fünf Richtern der beiden höchsten Gerichte auch der Justizminister angehört, und die Regierungsspitze werfen sich gegenseitig vor, die Arbeit der Justizorgane in unzulässiger Weise zu beeinflussen. Während der Justizrat beklagt, dass die Regierung mit illegalen Weisungen die Unabhängigkeit der Justiz einschränkt, sprach Vizeministerpräsident Bülent Arinc dagegen von einem "Justizputsch".
Hintergrund der Auseinandersetzung ist ein einmaliger Akt in der türkischen Justizgeschichte: Mitte letzter Woche ließ der Generalstaatsanwalt von Erzerum, Osman Sanal, einer Stadt im Nordosten der Türkei, seinen Kollegen aus dem benachbarten Erzincan, Ilhan Cihanger, verhaften und in das örtliche Gefängnis sperren. Daraufhin wurde Sanal mit seinen drei Kollegen in Erzerum vom obersten Justizrat in Ankara - gegen das abweichende Votum des Justizministers - suspendiert. Ihm droht ein Verfahren wegen Amtsmissbrauchs.
Cihanger sitzt derweil weiter im Gefängnis. Ihm soll ein Verfahren wegen Verschwörung gegen die Regierung drohen. Angeblich gehört er zu einer Gruppe in Erzincan, die mit den Angeklagten im sogenannten Ergenekon-Prozess an Plänen zum Sturz der Regierung von Tayyip Erdogan beteiligt waren.
Die Auseinandersetzung zwischen Erzincan und Erzerum begann, als Ilhan Cihanger im November 2007 ein Ermittlungsverfahren gegen die religiöse Sekte der Ismailaga einleitete. Sie sollen Kinder in illegalen Schulen (Korankursen) unterrichtet haben. Angeblich beschwerten sich daraufhin Mitglieder der Sekte bei Angehörigen der AKP-Regierung, was zu einer Intervention des Vizeministerpräsidenten Cemil Cicek führte. Mit Ciceks Unterstützung entzog daraufhin der Erzerumer Staatsanwalt Osman Sanal seinem Erzincaner Kollegen Ilhan Cihanger das Verfahren.
Im Mai 2009 eröffnete Cihanger ein neues Ermittlungsverfahren, dieses Mal gegen die einflussreiche Gülen-Sekte. Die Tageszeitung Taraf berichtete, es gäbe in Erzincan eine Zweigstelle von Ergenekon, die an Plänen zum Sturz der Regierung beteiligt seien. Kurz darauf wurde ein Waffenversteck gefunden und der örtliche Chef des Geheimdienstes MIT verhaftet. Die Verhaftung Cihangers wird nun ebenfalls damit begründet, er gehöre der Ergenekon-Verschwörung an.
Die Suspendierung des Erzerumer Staatsanwalts Sanal durch den obersten Justizrat wertet die Regierung deshalb als Versuch, die Aufklärung im Ergenekon-Verfahren zu behindern, das heißt, als Unterstützung für die Verschwörer. Die Tageszeitung Radikal berichtete zudem, der Generalstaatsanwalt in Ankara bereite ein neues Verbotsverfahren gegen die Regierungspartei AKP vor. In diesem Fall, heißt es aus der AKP, werde man es sich nicht wieder gefallen lassen, von einer feindlichen Justiz vorgeführt zu werden. Stattdessen, so kündigte Premier Tayyip Erdogan an, werde seine Regierung vorgezogene Neuwahlen noch in diesem Jahr anstreben. Gleichzeitig werde man eine Verfassungsänderung dem Volk zur Abstimmung vorlegen, die das Justizwesen neu ordnen soll.
In der türkischen Presse wird die Affäre um die beiden Staatsanwälte als neue Runde im Kräftemessen zwischen der AKP und den traditionellen kemalistischen Kräften bewertet. Allerdings ist es nicht mehr so klar, ob Neuwahlen für die AKP erneut zu einem Befreiungsschlag wie im Sommer 2007 werden, da die Mehrheit der Bevölkerung von dem Machtkampf zwischen Islamisten und Kemalisten angeödet ist. Zudem hat die AKP auch nicht mehr so eindeutig die Opferrolle wie nach der damaligen Putschdrohung des Militärs. Kommt es zu Neuwahlen, dürfte das die wirtschaftliche Erholung des Landes schwer beeinträchtigen und die Zustimmungswerte für die AKP weiter drücken.
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