Migrationsforscher Klaus J. Bade: "Es mangelt am solidarischen Wir"
Die Wirtschaftskrise dürfte Migranten besonders hart treffen. Klaus J. Bade sieht darin ein "Gefährdungspotenzial ersten Ranges" für die Republik und fordert eine Solidarität, die Einwanderer einschließt.
taz: Herr Bade, derzeit ist wieder viel von Parallelgesellschaften und integrationsunwilligen Türken die Rede. Wird sich die Situation mit der Wirtschaftskrise weiter verschärfen?
Klaus J. Bade: So schlecht ist die Ausgangslage nicht. Aber zu befürchten ist, dass im Zuge der Krise die ungesicherten und unqualifizierten Jobs zuerst wegfallen und der Rationalisierungsdruck im produzierenden Gewerbe noch stärker wird, als er bereits ist. In beiden Bereichen arbeiten besonders viele Menschen mit Migrationshintergrund. Sie werden daher besonders stark von der Arbeitslosigkeit betroffen sein. Wenn das passiert, können die latenten sozialen Spannungen, die es bereits gibt, offener zutage treten.
Wie wird sich das äußern?
In einem zunehmendem Maß an Perspektivlosigkeit, Desorientierung und auch alltäglicher Aggressivität im Umgang miteinander. Wer die Hoffnung auf die Integrationsschiene Arbeit verloren hat, weiß, dass er insgesamt verloren hat.
Stehen uns also Straßenschlachten wie in den Pariser Vorstädten bevor?
Nein, die Situation in Deutschland ist anders als in Frankreich. Wir haben keine Quasigettos ohne Kiezstruktur wie in den französischen Banlieues. Allerdings sind die Franzosen bei Protesten härter im Nehmen. In Deutschland würden schon viel harmlosere Ausschreitungen Schreckensvisionen verbreiten.
Was also befürchten Sie?
KLAUS J. BADE, 64, ist Historiker und einer der renommiertesten Migrationsforscher der Bundesrepublik. Bis zu seiner Emeritierung 2007 lehrte er am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (Imis) der Universität Osnabrück, das er mitgegründet und geleitet hat.
Bade hat auch den Rat für Migration ins Leben gerufen, saß im Zuwanderungsrat der Bundesregierung, hat am Integrationsgipfel teilgenommen und ist Mitglied der Islamkonferenz. Seit dem vergangenen Jahr ist er Vorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration, den acht Stiftungen ins Leben gerufen haben.
Dazu wird der Sachverständigenrat ein Jahresgutachten erstellen und ein Integrationsbarometer erarbeiten, die beide erstmals im Frühjahr 2010 vorgestellt werden sollen. Anders als beim Integrationsindex des Berlin-Instituts wird dabei nicht die Herkunft der Migranten, sondern ihr Sozialmilieu im Vordergrund stehen. SAM
Viele Menschen haben noch nicht begriffen, dass es nicht mehr um die Frage geht, ob wir ein Einwanderungsland sind oder nicht, sondern um die Zukunft unserer Gesellschaft insgesamt. Wir sind eine Einwanderungsgesellschaft, und die lebt davon, dass sie mit Blick auf kulturelle Toleranz und sozialen Frieden belastbar ist. Wenn diese Grundlage wankt, ist die gesamte Struktur der Einwanderungsgesellschaft gefährdet. Wir stehen also nicht nur vor einer immer noch unübersehbaren gewaltigen Krise, sondern auch vor einem gesellschaftlichen Gefährdungspotenzial ersten Ranges.
Was kann man tun?
Bei den Konjunkturpaketen, die derzeit verabschiedet werden, müssen die integrationsrelevanten Bereiche wie Bildung und Ausbildung noch mehr gestärkt werden. Diese Bereiche sind oft besonders beschäftigungsintensiv, deshalb entlastet ihre Finanzierung auch den Arbeitsmarkt. Wichtig ist aber nicht nur materielle Förderung, sondern sind auch Appelle, diese Krise als eine gemeinsame Herausforderung zu verstehen und deutlich zu machen, dass es ein kollektives Wir gibt, das auch an die besonders gefährdeten Gruppen denkt.
Aber dieses kollektive Wir gibt es doch gar nicht.
Es gibt einen großen Mangel an diesem solidarischem "Wir" in der Bundesrepublik. Aber wenn Krisen drohen, wird die Politik handlungsbereiter. Und es gibt in der letzten Zeit auch andere Signale. Kürzlich hat die Bundeskanzlerin zum Beispiel den Migranten der ersten Generation gedankt. Das ist ein Zeichen, das bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund angekommen ist. Solche Zeichen brauchen wir in Reihe.
Wo steht die Bundesrepublik in Sachen Integration?
Wir sind in Sachen Integrationspolitik in diesem Jahrzehnt rasant vorangekommen. Das Problem ist, dass Integration oft nur als Grad der Anpassung von Einwanderern gemessen und begriffen wird. Integration heißt aber, dass beide Seiten aufeinander zugehen. Mit dem Staatsangehörigkeitsrecht, dem Zuwanderungsgesetz, dem Integrationsgipfel und der Islamkonferenz ist da einiges geschehen. Deshalb bin ich auch etwas verdrossen über die publizistische Schlagseite, die sich jüngst im Zuge der Veröffentlichung des Integrationsindexes des Berlin-Instituts aufgetan hat.
Das Berlin-Institut ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Türken den größten Nachholbedarf in Sachen Integration haben, die Aussiedler dagegen überraschend gut integriert sind. Daraufhin gab es Schlagzeilen wie "Türken verweigern eisern die Integration".
Ja, solche herkunfts- oder kulturspezifischen Schlagzeilen bringen uns nicht weiter. Sie appellieren an die ohnehin verbreitete Bereitschaft zu kulturellen Projektionen. Die Folge sind stets Denunziation und Schuldsprüche im öffentlichen Diskurs. Das wirft die Diskussion zurück. Gerade tut sich bei den Türken in den letzten Jahren etwas, eine Mittelschicht bildet sich stärker heraus - und gleich wird alles wieder öffentlich plattgewalzt.
Aber die Probleme der Deutschtürken sind doch real. Warum soll man sie nicht benennen?
Natürlich muss man sie benennen, vor allem aber muss man nach den Ursachen fragen. Dabei hilft die Herkunft nicht weiter. Dass Menschen aus Ostanatolien im deutschen Bildungssystem Probleme haben, liegt ja nicht daran, dass sie aus Ostanatolien sind, sondern daran, dass sie dort keine Schulbildung bekommen haben, die annähernd den Bedingungen und Herausforderungen der Bundesrepublik entspräche. Die Tatsache wiederum, dass sie aus der Unterschicht kommen, liegt nicht daran, dass sie Türken sind, sondern dass sie aus diesem sozialen Milieu kommen und genau dort von Deutschland angeworben worden sind. Oder, um es mal mit den Worten einer Journalistin mit Migrationshintergrund etwas drastischer zu formulieren: Der Türke schlägt seine Frau nicht, weil er Türke ist, sondern weil er ein Arschloch ist. Dieses Argument muss in die Köpfe rein.
Der Sachverständigenrat, dem Sie vorsitzen und der gerade seine Arbeit aufgenommen hat, will auch ein Instrument zur Messung der Integration erarbeiten. Was werden Sie anders machen als das Berlin-Institut?
Wir argumentieren weniger plakativ und differenzierter. Wir orientieren uns weniger an der Herkunft als am Sozialmilieu. Und wir wollen bei der Integration beide Seiten berücksichtigen, also auch messen, inwieweit sich die Mehrheitsgesellschaft öffnet. Das kann man mit den vorhandenen Daten nicht zureichend, wir müssen also neue erheben.
Sie fordern schon seit vielen Jahren die Einführung eines Punktesystems ähnlich wie in Kanada, wo potenzielle Einwanderer nach Kriterien wie Bildung, beruflicher Qualifikation und Sprachfähigkeit ausgewählt werden. Im vergangenen Jahr hat die Bundesregierung die Einwanderung von Fachkräften minimal erleichtert. Was bedeutet die Krise für diesen zaghaften Fortschritt?
Einen herben Rückschlag, weil viele Menschen nicht in langen Zeiträumen denken. Jetzt kommen wieder diese Argumente: Wie gut, dass wir die Grenze nicht aufgemacht haben, denn jetzt werden Fachkräfte entlassen, und die brauchen wieder einen Job. Aber das ist doch kurzfristig gedacht! Erstens sind diese Fachkräfte mit den freien Stellen oft gar nicht kompatibel, und zweitens braucht man Fachkräfte gerade auch für Firmen, die in Schwierigkeiten sind. Wir haben uns in den letzten Jahren durch den zaghaften Umgang mit der Anwerbung von Fachkräften vieler Möglichkeiten beraubt. Wenn wir konkurrenzfähig bleiben wollen, brauchen wir qualifizierte Einwanderung. Deshalb gehe ich trotz allem davon aus, dass wir in absehbarer Zeit ein Punktesystem bekommen werden.
Wie das?
Es hat über 30 Jahre gedauert, bis die Position der Verweigerung der Erkenntnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, geräumt wurde. Es hat aber nur viereinhalb Jahre gedauert, bis die Bundesregierung erkannt hat, dass ein Vorschlag, den der Zuwanderungsrat 2004 gemacht hat, eigentlich regierungsfähig ist: die Engpassdiagnose am Arbeitsmarkt. Wenn Arbeitskräfte gebraucht werden, aber nicht zu finden sind, sollen Fachkräfte bis zu einer Gesamtzahl von maximal 25.000 einreisen können, so lautete unser Vorschlag. Dafür sind wir damals verteufelt worden. Letztes Jahr hat die Bundesregierung nun ein Aktionsprogramm vorgelegt, in dem es eine solche Engpassanalyse gibt. Ähnlich wird das mit dem Punktesystem laufen. Wir werden es bekommen. Es ist einfach das flexibelste und deshalb das einzig vernünftige System - und auf europäischer Ebene denkbar.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Schuldenbremsen-Dogma bröckelt
Auch Merz braucht Geld
Altvordere sollen Linke retten
Hoffen auf die „Silberlocken“