Soziale Marktwirtschaft: Die Amnesie der Reformer
Ohne Erläuterung ändert die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft die Richtung ihres Denkens. Die Kanzlerin, die das schon vor drei Jahren tat, nimmt es wohlwollend zur Kenntnis.
![](https://taz.de/picture/350225/14/Merkel_09.jpg)
Es ist immer noch dasselbe Hotel Adlon, in dem schon Roman Herzog seine Ruck-Rede hielt. Es sind dieselben Säle, in denen die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" unermüdlich tagte, um die "Reform der Reformfähigkeit" voranzubringen. "Neue Soziale Marktwirtschaft", das steht an der Wand aber nur noch ganz winzig. Darüber, in großen Buchstaben: "Erfolg made in Germany: die soziale Marktwirtschaft". Das Neue wird jetzt klein geschrieben.
Dass die Initiative ins Leben trat, um die soziale Marktwirtschaft alten Stils abzuschaffen, dass man alles, was das deutsche Modell von der angelsächsischen Ökonomie unterschied, für überholt hielt - das scheint den Veranstaltern entfallen zu sein. Ohne jede Erläuterung ändern sie nun die Himmelsrichtung ihres Denkens und zeigen ein Filmchen, in dem Ludwig Erhard höchstselbst durch die Wall Street marschiert, um die Casinokapitalisten über die soziale Marktwirtschaft zu belehren.
Unter Amnesie leidet auch die Bundeskanzlerin, die an diesem Dienstagmorgen als Festrednerin geladen ist. "Ich hab mich immer für den Begriff der neuen sozialen Marktwirtschaft eingesetzt", gibt sie immerhin zu. Aber: "Aus der Einsicht heraus, dass wir eine internationale Dimension brauchen. Die Grundzüge der sozialen Marktwirtschaft müssen Grundlage der Weltwirtschaft werden." Der Unterschied zu den Veranstaltern ist immerhin, dass Merkel den Schwenk schon 2005 vollzog. Drei Jahre lang musste sie sich von Wirtschaftsvertretern dafür beschimpfen lassen.
Angela Merkel erinnert an ihre Rede, die sie vor genau einem Jahr zum sechzigsten Jahrestag von Währungsreform und sozialer Marktwirtschaft hielt. Die "Bildungsrepublik Deutschland" rief sie damals aus. Der Bildungsaufbruch scheiterte an den Ministerpräsidenten der eigenen Partei - ein Debakel, das zu Merkels Glück im Strudel der Bankenrettung verschwand.
Merkel genießt den Triumph über die Kritiker von einst und macht deutlich, dass sie sich bei der Unternehmerschelte von den Sozialdemokraten nicht überholen lässt. Eine Insolvenz von Opel, "das wäre auch nicht so dolle geworden für Sie", hält sie den Wirtschaftsleuten vor. Gleichzeitig sagt sie dem Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), den sie mit entsprechenden Forderungen auflaufen ließ, ein "herzliches Dankeschön" für seine folgenlose Aufmüpfigkeit.
Noch weniger versucht die Kanzlerin, das Unternehmerlager über ihre ordnungspolitische Standfestigkeit zu täuschen. Für Bürgschaften gebe es ein klares Procedere, das "nicht von der ersten Sekunde an" politikabhängig sei, sagt sie. Was von der zweiten Sekunde an geschieht, lässt sie damit offen.
Anschließend spricht der Wirtschaftsminister. Guttenberg lässt erkennen, wie sehr ihn der Vorwurf einer Sonntagszeitung getroffen hat, er verbreite sprachlich nur "gequirltes Quallenfett". Inhaltlich bleibt er bei seiner Linie. Es gelte, "Stellung zu halten" und "der Stigmatisierung des Begriffs Insolvenz entgegenzuwirken".
Merkel also fürs Soziale, Guttenberg für den Markt - und als Puffer dazwischen eine hochkarätig besetzte Diskussionsrunde, die über nötige Finanzmarktreformen berät. "Wir sind immer noch verwirrt", stellt der Moderator am Ende fest. "Aber auf höherem Niveau." Was nicht verwundert, wenn keiner mehr sagen mag, welche Reformwünsche der wirtschaftsliberalen Ära nun richtig waren oder falsch. "Wir alle neigen dazu, die soziale Marktwirtschaft für unsere jeweiligen Zwecke zu instrumentalisieren", gibt Merkel immerhin zu.
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