Kinostart "Slumdog Millionär": Schicksal spielen
In schwieriger Episodenstruktur zum Happy End: "Slumdog Millionär" von Danny Boyle nimmt kluge Anleihen beim Bollywoodkino und erzählt eine wundersame Liebesgeschichte.
Der Zufall hat derzeit keinen leichten Stand im Kino: Er fristet ein eher trauriges Dasein als schrulliger Onkel in der Filmfamilie. Zumindest in der westlichen Welt, wo ihn Script-Doktoren weitgehend aus den Plots und Storylines in den Keller verbannt haben. Es gilt als unelegant, mitunter gar als handwerklicher Patzer, wenn sich zum Beispiel zwei Liebende aus den Augen verlieren und dann zufällig wiederfinden, ohne dass das Treffen für den Zuschauer nachvollziehbar hergeleitet würde.
Der englische Regisseur Danny Boyle hat in seinem neuen Film "Slumdog Millionär" mit voller Wucht gegen diese Regel verstoßen, indem er den Bestseller "Rupien! Rupien!" von Vikas Swarup verfilmt hat und den Zufall im Kino auf opulente und raffinierte Weise rehabilitiert. Bei der Oscar-Verleihung gab es dafür gleich acht der begehrten Academy Awards.
Jamal Malik (Dev Patel) ist 18 Jahre alt, er verdient sein Geld als "teaboy" (Teekocher) in einem Bombayer Callcenter. Und eigentlich gibt es für den Hilfsarbeiter nur verschwindend geringe Chancen, auch nur eine der Quizfragen in der indischen Version von "Wer wir Millionär?" beantworten zu können, als er auf dem heißen Stuhl sitzt. Dessen ist sich auch Prem, der Produzent und Showmaster der Sendung, sicher, dargestellt vom legendären Bollywoodschurken Anil Kapoor. Und so lässt Prem seinen Kandidaten kurzerhand wegen vermeintlichen Betrugs verhaften. Da hat es Jamal aber schon bis zur entscheidenden letzten Frage geschafft; das Finale wird auf den folgenden Tag verschoben. In der Nacht findet ein Polizeiverhör statt, währenddessen Jamal sein Leben in episodenhaften Rückblenden erzählt.
Jede Rückblende passt in wundersamer Weise genau zu den Fragen, die ihm zuvor vom Showmaster gestellt worden waren: Jamal weiß, wessen Konterfei auf den amerikanischen 100-Dollar-Noten abgebildet ist, wie der Erfinder des Colts heißt, was der Gott Ram in seiner rechten Hand hält usw.
Früh verwaist, hat Jamal zwar nie im Leben eine Schule besucht, aber gelernt, wie man sich im größten Slum von Bombay oder als Touristenführer am Taj Mahal durchschlägt. Sein Leben in schlimmster Armut wurde stets vergoldet durch Latika, die er und sein älterer Bruder als kleines Mädchen kennen lernen. Die drei Kinder kleben aneinander, irgendwann verliebt sich Jamal in Latika und weiß, dass sie füreinander bestimmt sind.
Obwohl Latika auch so empfindet, wird sie aber die Geliebte des gewalttätigen Slumlords, in dessen Haus sie Jamal nach jahrelanger Trennung wiederfindet. Diese Liebe ist der rote Faden der Geschichte, der Jamals Lebensweg vorausbestimmt und ihm den Mut gibt, sich überhaupt auf den "heißen Stuhl" vor ein Millionenpublikum zu setzen, als ihm ein Zufall diese Chance eröffnet - ist er sich doch sicher, dass auch Latika ihn live im TV sehen wird.
"Slumdog Millionär" gelingt es vielleicht gerade durch die schwierige Episodenstruktur der Geschichte, den eigenwilligen Bollywood-Suchteffekt zu imitieren: Man weiß ja auch in kommerziellen Hindi-Filmen von Anfang an, dass es ein "Happy End" geben wird. Doch anders als in der westlichen Erzähltradition, die zumeist "innere Kräfte" der Protagonisten als Antrieb der Filmgeschichten benutzt, erleben Bollywoodhelden selten eine "innere Wandlung". Sie werden vielmehr von äußeren Ereignissen - also vom Schicksal - getrieben, die absurdesten Schritte zu tun, um die jeweils nächste Hürde nehmen zu können, aus der sich dann wiederum neue Herausforderungen auf dem Weg ins finale Glück ergeben. Ans Ziel gelangen die Liebenden zwar oft gebeutelt, aber innerlich sind sie immer noch genauso toll wie schon zu Beginn des Films.
Deswegen braucht es im indischen Kino zum Beispiel auch keine Liebesgeständnisse, da Held und Heldin nach ihrer ersten Begegnung einfach wissen, dass sie füreinander bestimmt sind: Sie müssen sich in der weiteren Filmhandlung einfach nur treiben lassen, um uns, die Zuschauer, im Strudel der Ereignisse emotional mitzureißen.
Ähnlich erzählt dieser Film die Liebesgeschichte von Jamal und Latika, und macht kluge Anleihen beim Bollywoodkino, die sich keineswegs nur auf die Verbeugung vor dem Zufall/Schicksal als Erzählprinzip beschränken. Typisch Bollywood ist etwa der Genremix, mit dem die verschiedenen Episoden aus Jamals Leben dargestellt werden, aber auch die Überzeichnung des fiesen Showmasters, oder die erste Begegnung mit Latika im obligatorisch strömenden Regen, auch die zahlreichen schicksalhaften Begegnungen am berühmten Victoria Terminal, dem prachtvollen Bahnhof von Bombay. Und natürlich die Stadt selbst und ihre Bewohner, die von Danny Boyle als der fast mythische urbane Ort inszeniert werden, der das Bollywoodkino mit seinen schönen und schrecklichen Seiten hervorgebracht hat und der nach wie vor das "reale Leben" in Bombay prägt. Dazu gehören die durchaus wirklichkeitsnah gezeichneten "slumlords" und Polizisten, die sich tatsächlich gerne wie die Schurken in Bollywoodfilmen geben, genauso wie die unglaubliche Armut, die die Sehnsucht nach Kinogeschichten, die größer und schöner als der Alltag sind, maßgeblich geprägt hat.
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