Autorin Baydar über kurdische Minderheit: "Ich bitte um Verzeihung"
Es stört sie nicht, in der Türkei als Nestbeschmutzerin bezeichnet zu werden, sagt Oya Baydar - die Schriftstellerin über Folter, die Kurden und die Zerrissenheit der Linken.
taz: Frau Baydar, sind Sie eine Patriotin?
Die Heranwachsende: Oya Baydar wurde 1940 in Istanbul geboren. Sie besuchte das französische Gymnasium, studierte Soziologie, zuerst in Paris, dann in Istanbul. Die Politische: Als Gründungsmitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei wurde Baydar nach dem Putsch von den Militärs verhaftet, gefoltert und von der Universität verwiesen. 1980 ging sie mit ihrem Ehemann, dem Theaterautor Aydin Engin und ihrem Sohn nach Deutschland ins politische Asyl. Nach einer Amnestie kehrten sie 1992 nach Istanbul zurück. Seit 2001 ist sie Sprecherin der Türkischen Friedensinitiative, einer Nichtregierungsorganisation, die sich für einen Ausgleich im Kurdenkonflikt einsetzt. Die Schriftstellerin: Ihren ersten Roman schrieb Baydar mit 18, weswegen sie fast von der Schule verwiesen wurde. Später schrieb sie politische Artikel und zahlreiche Bücher. Ihr jüngster Roman, "Verlorene Worte" ( 400 Seiten, 22,90 Euro), erschien im August im Claassen Verlag und ist das erste Buch, das ins Deutsche übersetzt wurde. Die Preisträgerin: Für ihre Romane wurde sie mit fast allen bedeutenden türkischen Literaturpreisen ausgezeichnet. So erhielt sie unter anderem 2001 den Orhan-Kemal-Literaturpreis.
Oya Baydar: Eine Patriotin? Nein, das bin ich nicht. Ich liebe mein Land, die Türkei, und setze mich gerne damit auseinander. Aber ich würde nicht dafür sterben - diesen Einsatz würde ich nur für die Menschenrechte bringen.
In Deutschland gibt es immer wieder Patriotismusdiskussionen. Die meisten Deutschen können dieses Wort nicht aussprechen, ohne rot zu werden. Können Sie das nachvollziehen?
Ja, die deutsche Geschichte ist eine sehr schwierige, und wer sich als Patriot bezeichnet, wird schnell in die konservative Ecke gestellt. Aber auch in der Türkei ist der Begriff sehr negativ behaftet. Denn unser Land ist gespalten, und es zeigen sich Abgründe. Mächtige Gruppierungen in der Armee und in den Behörden, die auch einen Putsch ausüben würden, und neue religiöse Strömungen mit einem autoritären Staatsverständnis. Dann gibt es noch die Kemalisten. Sie tendieren zum Nationalismus, lehnen sich gegen die Regierungspartei auf, die das religiös-konservative Bürgertum vertritt. Alle diese Gruppen sehen sich als Patrioten.
In Ihrem neuen Roman ist die Türkei ein Land, das unter Terrorismus und Nationalismus leidet. Warum so kritisch mit ihrer Heimat?
Finden Sie mich wirklich so kritisch?
Sie beschreiben eine Gesellschaft, die den Kurswechsel scheut, Minderheiten unterdrückt und in der die Linken auf der Sinnsuche sind …
Unser Land befindet sich schon seit Längerem in einem Destabilisierungsprozess, der sich zunehmend verdichtet. Deswegen ist es für die Jüngeren sehr schwierig, ihre Enttäuschungen beiseitezuschieben. Und viele der älteren Linken haben ihr Gesicht und ihre Sprache verloren. Die Zerrissenheit macht sich auch daran bemerkbar, dass unsere Linke heute eine andere ist und anders als die im Westen. Denn bei uns sind die Linken zweigeteilt: in das Lager der Nationalisten und in das der Distanzierteren. Letztere aber suchen nach einer neuen, demokratischen Strömung.
Warum vertreten Sie auf der Frankfurter Buchmesse das Land, aus dem Sie fliehen mussten, in dem Ihre Meinung zensiert wird und Sie jederzeit mit Klagen rechnen müssen?
Ich vertrete hier nicht die Türkei, ich präsentiere nur einen gewissen Teil der kulturellen Linken und bin als Schriftstellerin hier. Aber man muss auch mal die Perspektive wechseln. Die Türkei hat auch schöne Seiten, nicht alles ist schlecht dort. Aber das interessiert die Wenigsten.
Wie kann die Linke arbeiten, wenn es den Paragrafen 301 gibt, der die Beleidigung des Türkentums unter Strafe stellt? Immerhin ist es in der Türkei nicht allzu schwer, deswegen vor Gericht zu landen.
Man sollte das nicht zu sehr aufheizen, denn bisher wurde noch niemand wegen dieses Paragrafen gehängt. (Sie muss laut lachen.) Natürlich muss dieser abgeschafft werden, keine Frage. Aber es gibt andere Paragrafen, die schlimmer sind.
Die türkische Schriftstellerin Elif Shafak beschwert sich darüber, dass "Menschen aus dem Westen nichtwestliche Schriftsteller gerne bemitleiden". Teilen Sie diese Ansicht?
Voll und ganz. Der Westen will uns immer beschützen, unter eine Käseglocke packen und behüten. Wir werden wegen Nichtigkeiten bemitleidet und nicht ernst genommen.
Auch Ihre Romanfigur in Ihrem neuen Buch, die Wissenschaftlerin Elif, wehrt sich gegen das eindimensionale Bild einer archaischen Türkei.
Es geht nicht darum, vom Westen immer verstanden oder akzeptiert zu werden. Es geht um eine faire Wahrnehmung.
Sie sagen, dass Sie mit türkischen Soldaten, die gegen die PKK kämpfen, aber auch mit dem kurdischen Rebellen mitfühlen können. Woher diese Symphonie der Gefühle?
Ich kann spüren, wie es ist, einen Sohn zu verlieren. Ich ahne, welches Leid dahintersteckt, ich kann den Schmerz der Hinterbliebenen sehen. Es geht nicht um Kurden oder Türken, es geht um den Verlust junger Menschen für einen uralten Konflikt, denn wir friedlich beilegen müssen.
Verletzt es Sie, wenn Sie als Vaterlandsverräterin beschimpft werden?
Überhaupt nicht. Nur, wer so bezeichnet wird, liebt sein Land. Ich fände es schade, wenn ich nicht als eine Vaterlandsverräterin abgestempelt werden würde.
Sie wurden wegen Ihrer politischen Ansichten als junge Frau gefoltert und ins Gefägnis gesperrt. Welche Spuren hat diese Zeit bei Ihnen hinterlassen?
Ich habe nicht die Folter in ihrer schlimmsten Art und Weise erlebt. Ich wurde nach dem Putsch 1971 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, musste aber nur zwei absitzen. Während dieser Zeit wurde ich mit Elektroschocks gequält. Mein Dasein wurde zweigeteilt: in ein Leben vor und nach der Folter. Denn meine Karriere wurde durch diesen Abschnitt unterbrochen, und es war sehr schwierig, wieder den Anschluss zu finden.
Und emotional? Was hat sich danach für Sie verändert?
Ich habe während dieser Lebensphase meine Emotionen kaum zugelassen. Denn hätte ich das gemacht, wäre ich sehr wütend geworden, das wollte ich nicht. Außerdem hatte ich immer Hoffnung und Ideale und wusste, dass ich überleben muss, um meine Ziele weiter zu verfolgen.
Als linksintellektuelle Frau müssen Sie in der Türkei immer wieder mit politischen Verfolgungen rechnen. Warum sind Sie nach Ihrem Exil in Deutschland 1991 dennoch zurückgekehrt?
Ich wollte zurück in meine vertraute Umgebung, zurück zu meinen Freunden und Wurzeln. Ich wollte etwas für das Land tun, dem ich mich immer noch zugehörig fühlte.
Haben Sie Angst, wenn Sie von den Plänen der türkischen Nationalisten hören - und ihren Opfern? Orhan Pamuk wird regelmäßig bedroht.
Nein, warum sollte ich Angst haben?
Immerhin wurden Kritiker in ihrer Heimat schon ermordet.
Na und, was soll mir schon passieren? Wir werden alle eines Tages sterben. Mein Ehemann hat einen Leibwächter, ich will das nicht. Wenn mir irgendwer etwas antun will und es gelingt, dann soll es auch so sein. Aber die Zeiten für Schriftsteller haben sich ein wenig zum Guten gewendet. Denn im Vergleich zu den 80er- und 90er-Jahren sind die Strafen für Menschen mit starken Meinungen nicht mehr ganz so hoch. Wir Kritiker sind es gewohnt, immer im Kreuzfeuer und vor Richtern zu stehen. Das sind die Bedingungen, mit denen wir uns abfinden müssen. Das kenne ich alles schon. Wer das nicht ertragen kann, sollte erst gar nicht damit anfangen.
Der Mord an Hrant Dink, die Klagen gegen Orhan Pamuk, die Verfahren gegen Sie, all das sind Zeichen, dass sich Nationalisten vor Intellektuellen fürchten. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Es ist nicht nur ein gewaltsamer, sondern auch ein psychologischer Krieg, der hier geführt wird. Wenigstens stehen jetzt einige mutmaßliche Verschwörer der ultranationalistischen Ergenekon vor Gericht, die einen gewaltsamen Regierungssturz der Regierung Erdogan geplant hatten. Ob es zu einer Verurteilung kommen wird, bleibt fraglich. Aber die Generation von Pamuk hat - Gott sei Dank - nicht die Repressalien erleben müssen, die wir erlebt haben. Wir haben ganz anderes durchgemacht. Schlimmeres.
"Die Menschen dort verkörperten unsere Scham, weil wir sie der Armut überließen, unseren Stolz, weil sie sich den Gräueltaten widersetzten. Sie waren unser Volk, in dessen Namen wir, weil wir das Wort Kurde benutzt hatten, im Gefängnis saßen, so beruhigten wir unser Gewissen", lautet ein Zitat aus Ihrem Roman. Auch Sie setzen sich immer wieder für Minderheiten ein. Was treibt Sie an?
Es ist mein Gewissen, das mich motiviert. Im Südwesten der Türkei sterben täglich Menschen, und wir leben einfach so weiter. Viele von uns fühlen sich schuldig, weil wir uns nicht in ausreichendem Maß dagegen wehren. Dabei geht es nicht um Mitleid oder Sympathien, es ist eine Frage der Gerechtigkeit. Der Kurdenkonflikt ist das wichtigste Problem, das wir lösen müssen und an dem sich auch die Demokratiefähigkeit des Staates zeigen wird. Ohne eine Akzeptanz der kurdischen Kultur wird es keine moderne Türkei geben und wird sich die Gesellschaft spalten. Der Titel meines Buchs "Verlorene Worte" ist auch eine Metapher für die Bedrohung der kurdischen Sprache.
Neben den Kurden setzen Sie sich auch für andere Gruppen ein.
Die Tragödie der Minderheiten hat mich nie losgelassen, nicht die der Kurden und auch nicht die der Armenier. Obwohl wir wissen, dass wir immer noch die Menschen im Osten unterdrücken und hunderttausende Armenier vor hundert Jahren zu Tode gekommen sind, mag der Staat sich nicht entschuldigen. Deswegen bitte ich persönlich unsere armenischen und kurdischen Brüder und Schwestern um Verzeihung.
Sie haben einst gesagt: "Unsere Generation wollte die Welt verändern. Jetzt sind wir über 60 Jahre alt und furchtbar enttäuscht." Warum?
Irgendwann wurde klar, dass wir die Welt nicht verändern konnten, sondern das wir Türken uns veränderten. Immer wenn die türkische Gesellschaft einen Schritt vorwärts wagte, ruderte sie anschließende wieder zwei Schritte zurück. Viele meiner früheren Weggefährten haben ihre utopischen Ideale des Sozialismus vergessen, sich der Gesellschaft angepasst, die wir eigentlich bekämpften.
Und Sie sind sich treu geblieben?
Ich habe mich nie von meiner linken Identität lossagen können und versuche immer noch, etwas zu verändern. Jetzt möchte ich eine neue Linke bilden, mit neuen Worten und Sichtweisen. Ich bin Sprecherin der Türkischen Friedensinitiative und bin in einer NGO. Dem chauvinistischen Nationalismus muss eine Wiederstandsbewegung entgegengestellt werden.
Sie kämpfen seit Jahrzehnten. Sind Sie nicht langsam müde?
Ehrlich gesagt: Doch, das bin ich, ein bisschen.
INTERVIEW: CIGDEM AKYOL
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