Kurzgeschichte zum dritten Advent: Das allerletzte Abendmahl
Der Berliner Bezirk Neukölln gilt als das exakte Gegenteil von Weihnachten. Doch auch dort können die entsprechenden Gefühle aufkeimen - jedoch seltsam besinnlich.
Am frühen Adventsnachmittag begann es langsam zu schneien. Erst segelten nur wenige weiße Sendboten des Himmels sachte zu Boden, um die Botschaft des Weihnachtsmannes und seiner sieben Zwerge zu verkünden, doch stetig wurden es der kleinen, gefrorenen Gesellen mehr.
Als es dämmerte, war die ganze Nachbarschaft von der weißen Pracht bedeckt. Selbst der Müllberg vor dem Haus der Spinner schimmerte nun leuchtend wie der herrlichste Schatz. Er schmeichelte meinen Augen so sehr, dass sie sich überquellenden Sautrögen gleich mit Tränen der Freude füllten. Die kalte Luft tat das ihrige dazu, ein Sturmtief bei Grönland verursachte Narbenschmerzen. Wo vor Jahren Mutters Axthiebe die Schädeldecke perforiert hatten, puckerte und pochte es nun. Zischend zog ich die Luft zwischen den geschlossenen Zähnen ein. Ich war auf dem Rückweg von Aldi.
Aldi hatte zugehabt, doch heute machte mir das wundersamerweise nichts aus. Meine Seele badete in Demut. Die Verkäuferinnen durften auch mal Pause machen. Die hatten sie sich redlich verdient. Das ganze Jahr über hatten sie geackert wie die Hafennutten. Verkauft, kassiert, storniert. Sollten sie doch ruhig mal einen Sonntag lang die Füße hochlegen und dazu ein wenig süßes Gebäck knabbern.
Leise rieselte der Schnee. Ich hielt inne und horchte ergriffen in die Stille hinein. Plötzlich wurde mir bewusst, dass in diesem Moment überall auf der ganzen Welt Frieden herrschte. Für Sekunden ließen Mordbuben jedweder Couleur ihre blutigen Gerätschaften sinken, blickten einander in die Augen und sahen, dass sie Brüder waren. Beim Gedanken daran ließ ich ein glockenhelles Kichern vom Stapel - zur Feier des Tages hatte ich hie und da bereits vom heißen Zuckerschnaps genascht. Möge mir morgen die gute Muhme Aspirin das krause Köpfchen klären, dachte ich fröhlich.
Da vernahm ich auf einmal ein leises Wimmern.
Ich stutzte. Das Geräusch war wieder verstummt. Flugs war ich mir meiner Wahrnehmung nicht mehr sicher. Foppte mich, wie so oft, mein rebellisches Unterbewusstsein?
Nein, ich hatte mich nicht geirrt: Da war das Klagen wieder! Ich vermochte den Ursprung nicht auszumachen, obwohl er sehr nah schien. Meine Augen wanderten über den Gehweg, über die Straße und an den Häuserwänden entlang: nichts. Das Wimmern ertönte erneut, von einem schmerzerfüllten Stöhnen begleitet. Immer aufgeregter rannte ich umher, schnupperte, spähte und lauschte. Alles ohne Erfolg, bis ich den rettenden Einfall hatte, zu rufen: "Wo bist du? Ich kann dich nicht finden!"
"Hier", greinte ein dünnes Stimmchen, "hier unten."
Ich richtete meinen Blick auf den Boden und entdeckte eine geschlossene Blutspur, die von der Straßenkreuzung durch den frisch gefallenen Schnee geradewegs zu einem Kellerschacht hinführte.
Der Rost war abgehoben und beiseite geschoben worden. Ich blickte hinein: dort unten saß zitternd und frierend ein kleines Mädchen. Es war barfuß, trug nur ein dünnes Gewand aus gebrauchtem Toilettenpapier und weinte bitterlich. Ich half ihm aus dem finsteren Loch und legte ihm meinen alten Militärmantel um. Gern hätte ich ihm auch eine Zigarette geschenkt, wenn ich eine gehabt hätte. Aber Aldi war ja zugewesen. Ich wollte mein Los gerade jaulend verfluchen, als mir einfiel, um wie vieles härter das Schicksal dieses unschuldige Kind getroffen hatte. "Hast du denn gar keinen Menschen, der sich um dich kümmert?"
Traurig schüttelte das Mädchen den Kopf und berichtete mit stockender Stimme: Seine gesamte, über alles geliebte Familie war im umkämpften Nordsüdzipfel Balkonien-Karabachs ums Leben gekommen - in Folge eines irrtümlichen Angriffs der Bundeswehrmacht. Soldaten aus meinem eigenen Land hatten ihre dreizehn Brüder zu Brei gebombt! Hatte ich damals oft und lange genug gegen die angebliche Friedensmission protestiert? Nein, ich hatte mich vielmehr wie ein feiges Faultier im Bette geaalt und die Mächtigen gewähren lassen. Die Bomben hätten eigentlich mich treffen müssen, niemanden sonst.
Die Einsicht erwischte mich mit der Wucht einer unvorhergesehenen Fahrkartenkontrolle. Ich fiel vor dem Mägdelein auf die Knie und flehte um Vergebung. "Steh auf", tröstete sie mich, "ich habe euch längst verziehen. Für mich gibt es keinen Hass, ich werde ohnehin bald sterben." Wie zum Beweis krümmte sich in diesem Moment ihr kleiner zerbrechlicher Körper unter einem schweren Hustenanfall. Blutiger Auswurf sprühte rote Einsprengsel in den Schnee. Ein hübsches Siebdruckbild im Grunde, doch die sieche Ästhetik konnte mich nicht täuschen. Da ich früher Medikamente ausgefahren hatte, wusste ich sofort Bescheid über die tödliche Diagnose: Sie hatte die scheu galoppierende Schwundsucht, eine streptokokkeninduzierte Hyperinfektion mit 180-prozentiger Mortalitätsrate.
Ich wollte dem Kind unbedingt eine letzte Freude bereiten. Wenigstens noch ein einziges Mal sollte es sich warm und geborgen fühlen, noch einmal satt essen und am Ende seines viel zu kurzen Lebens so etwas Ähnliches wie Liebe erfahren. Ich beschwor es also, mit mir zu kommen, und überraschend bereitwillig folgte es dem Spießgesellen seiner Elternmörder mit nach Hause.
Wiederholt musste ich meinen Schritt verlangsamen. Auch bemerkte ich erst jetzt, dass sie ihr rechtes Bein verloren hatte. Die Wunde war noch frisch - daher also stammte die Blutspur. Sie sei vorhin von einem Spekulatius-Laster überfahren worden, erklärte sie, alles deutete wohl auf Absicht hin: der Fahrer habe noch gelacht und obszöne Frechheiten aus dem Fenster gerufen, bevor er Gas gab und sie einfach liegen ließ. Ich war entsetzt über den bösen Mann und beschämt ob ihrer Bredouille. Zum Arzt konnte das Mädchen nicht gehen: man hätte entdeckt, dass ihre VWZ abgelaufen war, ihre Vorbeigehende Widerwillige Zwischenduldung. Selbst im Advent entschieden auf hohen Amtsschimmeln thronende Zyniker über Leben und Tod. Damit sie mir nicht unterwegs wegstürbe, hob ich sie hoch und trug sie den Rest des Weges.
Oben in meiner Wohnung jauchzte die Ärmste auf, als sie meine intakte Zimmerdecke sah. Wie lange schon mochte ihr das Firmament als einziges Dach gedient haben und die eiskalten Sterne als Lampen? Ich besaß selber nichts, doch davon würde ich alles mit dem Kinde teilen. Strom, Heizung und Wasser waren abgestellt, die Fenster gepfändet. Gleichwohl war meine dunkle und kalte Bleibe für dieses Mädchen das prächtigste Schloss auf Erden.
Wie schämte ich mich nun für meinen Kleinmut, für mein prinzessinnenhaftes Zagen auf höchstem Niveau! Ich war doch immerhin gesund. Während ich oft aus nichtigem Anlass zehnstrophige Lamentos anstimmte, empfand das arme Wesen Glück über die geringsten Dinge. Ich riss einige Dielen heraus und schürte uns ein wärmendes Feuer. Wie verzaubert starrte das Mädchen in die Flammen, während ich mich daran machte, ihr ein wärmendes Mahl zu bereiten. Aldi hatte ja - ich erwähnte es - schon zugehabt, deshalb kreierte ich eine karge Suppe aus Urin, Fahrradöl und ein wenig Laub. Ihr war alles recht. Sie sprach ein bei aller Inbrunst hastiges Dankgebet. Gerührt sah ich zu, wie sie mit leuchtenden Augen den Teller auslöffelte. Erst noch verhalten, dann immer schneller, voller Wonne, als sei es der herrlichste Braten, und unterbrochen nur durch gelegentliches Abhusten blutigen Schleims.
Aus alten Zeitungen fertigte ich ihr einen Schuh und einen Verband für den Stumpf. Die Wunde roch brandig, ihre Stirn war fieberheiß und dennoch lächelte sie froh. Für sie war wirklich Advent, aber hallo!
"Onkel?", fragte sie mich schwach, "wohnt dort oben der liebe Gott?"
Wie "dort oben"? Was meinte sie? "Gott" - wer sollte das sein? Früher hatte über mir mal so ein Penner gewohnt, der sich immer mit alten Pizzaschachteln den Arsch abgewischt hatte und damit ständig das Fallrohr verstopft. Furchtbar. So weit ich wusste, stand die Wohnung seitdem jahrelang leer. An den Namen konnte ich mich allerdings nicht erinnern, doch war dies jetzt nicht die Zeit für kleinliche Diskussionen. Deshalb sagte ich: "Ja, Kindchen. Der wohnt da, der - äh - liebe Gott."
Ich wiegte sie in den Armen und las ihr aus dem Verband die Schlagzeilen vor, bis sie für immer eingeschlafen war. Getröstet blickte ich ihrer Seele nach, die von allem Leid erlöst als Engel hinaus in den bleischwarzen Himmel flatterte, um sich dort mit den tanzenden Flocken zu vermählen. Schon schön das alles, auf so eine ganz eigene Art.
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