Kolumne Parallelgesellschaften: Achtung, Wollmützenalarm!
Bis vor kurzem war Neukölln noch der soziale Brennpunkt. Jetzt heißt es, der Kiez komme. Oh weia.
Mein Kumpel Klaus versteht sich auf die kleinen Unterschiede. Schlau ist er auch, also würde er nie zugeben, unbedingt aufsteigen zu wollen. Weg aus der Gosse, aus Verhältnissen, die nach Verlierertum riechen. Er würde gerne zu jenen jungen Menschen gehören, die am Rosenthaler Platz in Berlins Mitte leben, aber er würde das nie laut sagen.
Da geht ihm ganz und gar wie mir: Man wohnt möglicherweise aus pekuniärer Not in Neukölln, "mitten im Dreck", wie meine Nachbarin, die heitere Säuferin Nicole formuliert, aber man findet in der ausgesprochenen Rede ja immer zum scherzhaften Flachs: "Na, hast du schon gehört, Neukölln ist echt im Kommen." Dabei ist das sehr ernst gemeint. Neukölln lebt.
Klaus, um auf diese treue Seele wieder zu sprechen zu kommen, lebte bis vor kurzem spätstudentisch in Kreuzberg, wie er meinte. Glatt geflunkert. Näher insistiert, erwies sich, dass da nix ist mit Kreuzberg, denn Kreuzberg ist zwar eine Art Jerusalem der womöglich schon immer schwarz-grünen Milieus, aber Klaus konnte es vom Wohnschlafarbeitszimmer immer nur sehen. Zwischen dem Dorado und ihm lag der Kanal. Eine natürliche Grenze, und er auf der falschen Seite.
Nun ist er umgezogen, beteuernd, "jetzt lebe ich wirklich in Neukölln". In dem Viertel, das nach Hunger und Not aussieht, dies aber nicht wie in einer schlechten Käte-Kollwitz-Paraphrase gellend herausschreit. Nun, man sieht es an all den Imbissbuden und Telefonläden. Beides gibt es nur dort, wo noch Gier lebt. Ist in allen Städten so. Selbst in Istanbul erkennt man es: Wo keine Fressbuden, Obststände und fliegende Nahrungshändler sind, dort herrscht auch keine Armut. Dort hat jeder zu Hause DSL und Instantnahrung in der Tiefkühle. In Neukölln aber ist alles auf Hunger getrimmt und auf Kommunikation mit der Heimat, Bangladesch, Irak, Syrien oder die Philippinen.
Klaus hat Quartier bezogen, aber wiederum nur als Falschmünzer. Der Teil, in dem er in Ufernähe zu Kreuzberg lebte, ist insgesamt einer, der links der Sonnenallee liegt - diese Straße jedoch ist die Scheidelinie. Klaus Kiez heißt szeneastisch betrachtet Kreuzkölln - steht schon auf T-Shirts, widerlich. Kreuzkölln soll signalisieren: Ich bin zwar in Neukölln gemeldet, aber eigentlich ist es wie Kreuzberg.
Man könnte sagen: Er lebt im Westjordanland, korrupt durch und durch mit Hilfe der Fatah-Behörden, ich immer noch im Gazastreifen der Hauptstadt, quasi Hamasland, und niemals käme ich auf die Idee, meinen Kiez als "echt bald im Kommen" zu heißen. Es wäre gelogen, denn in meiner Straße kommt nur wenig.
Bei uns lebt man ohne kulturaufjazzende Versprechungen, hierhin fließt kein kommunales Geld, was eventuell damit zu tun hat, dass bei Klaus die realexistierende Rütlischule liegt, und meine Schule in der Donaustraße nie so viel in puncto Krawall von sich hermachte. Der Skandal um diese Schule hat tüchtig Geld dort hineingepumpt - eine Art Bronx, die alle Welt sich bald nur noch als aufgepepptes Missverständnis vorstellen will. Und also saniert.
Jetzt haben dort die ersten Kneipen aufgemacht, auch sehr szenig, viele Wollmützen, schwer eingeweihte Menschen, die nächtens, wie es sich gehört, die Kontaktbereichsbeamten mustern und Unruhe wittern. Die erkundigen sich aber bei der Wirtin nur, ob sie auch schon Opfer von Schutzgelderpressungen wurde ("Och, nö, nich so"), machen sich Notizen und gehen.
Man könnte also sagen: Klaus Wohngegend wird aufgehübscht, mit Staatsgeldern korrumpiert, sogar die neue Plus-Filiale sieht aus, als würden da demnächst Wellnessprodukte angeboten. Und prompt war mir neulich so, als trügen dort weniger Musliminnen Kopftücher, als gäbe es dort mehr Pornoläden und Männer, die dort ihre kleinen Geschäfte verrichten. In meinem Viertel beten wir hingegen rund um die Uhr: Dass alles so bleibt, wie es ist. Echter als am Rosenthaler Platz sowieso, aber auch ungnädig authentischer als in Kreuzberg. Allah sei Dank trennt uns eine sehr vielbefahrene Straße.
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