Kolumne Knapp überm Boulevard: Keine Leistung ohne Auszeit
Große Schulferien sind ein eigenständiges Förderprogramm. Und freie Zeit ist der Ausgangspunkt für kreative Entwicklungen, für Autonomie.
D ie Kinder sind in den Sommerferien und in den österreichischen Zeitungen häufen sich die Plädoyers, die nach "kürzeren, sinnvolleren Ferien" rufen. Die langen Ferien seien eine verlorenen Zeit, lese ich. Die Kinder würden nur herumhängen, ungefördert, ineffizient, sinnlos die Zeit totschlagen in dieser viel zu langen Periode, in der sie aus dem produktiven, effizienten, sinnvollen Tun an den Schulen ausgeklinkt sind. Ja, Schüler und Eltern würden, so ein Kommentator, den Tag herbeisehnen, an dem die Schule wieder losgehe! Ergo der Ruf nach kürzeren Sommerferien und nach schuleigenen, fördernden Ferienprogrammen.
So. Ich will hier mal eine Lanze fürs Nichtstun brechen. Kinder und junge Leute haben ein Recht darauf, ihre Zeit auch sinnlos zu verbringen. Sie haben ein Recht darauf, auch mal den Effizienz-Leistungs-Förderungsstrukturen zu entkommen. Ja, es ist ein Problem für viele Eltern, diese Zeit, diese schulfreie Zeit ihrer Kinder, zu organisieren. Ja, es gibt die Diskrepanz zwischen Unterschichtkindern, die vorm Fernseher geparkt werden, und Kindern aus anderen Schichten. Natürlich gibt es das alles. Aber lassen sie mich die soziale Problematik ausnahmsweise einmal ausklammern. Nicht aus Ignoranz oder Hochnäsigkeit, sondern nur aus dem Grund, dass dies heute nicht mein Thema ist.
Thema ist vielmehr das überbordende Leistungsprinzip in unseren pädagogischen Diskursen. Das beginnt schon bei den Jüngsten, die ein Förderungsprogramm mit knallhartem Zeitkorsett absolvieren sollen und endet bei Hochschulkonzepten, die keinen anderen Parameter als den der Effizienz gelten lassen. Um nicht missverstanden zu werden: Dies ist kein Plädoyer gegen Bildung, sondern ein Plädoyer gegen den Kurzschluss von Bildung und Leistung. Denn Bildung kann auch ganz andere Wege gehen, jenseits von Bologna und Pisa. Sie kann, ja sie muss vielleicht sogar Umwege nehmen, Abschweifungen vom geraden Pfad der Effizienz. Solche erlaubte Abschweifungen sind beispielsweise die Sommerferien. Sie sind oftmals die einzige, wirkliche Auszeit im Leben. Das bedeutet eine Erfahrung von Freiheit und Sorglosigkeit, wie man sie nicht oft machen kann.
Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien.
Ich gestehe, ich habe zu Beginn der Ferien gemeinsam mit meinem Sohn sein sogenanntes Ferienheft mit Übungen und Beispielen entsorgt. (Das Geständnis fällt umso leichter, als die Lehrerin definitiv keine taz-Leserin ist.) Nicht, weil ich meinen Sohn nicht fördern würde. Nicht, weil mir seine Ausbildung unwichtig, seine Entwicklung gleichgültig wäre. Nein, ich tat es, gerade weil ich Wert darauf lege. Das lange Nichtstun ist nur scheinbar, nur aus einer verengten Perspektive, sinnlos.
Tatsächlich ist diese Freiheitserfahrung ein ganz wesentliches Bildungsmoment. Man darf die Produktivität solch eines - begrenzten - Ausgeklinktseins nicht unterschätzen! Freie Zeit ist der Ausgangspunkt für kreative Entwicklungen, für Autonomie und vieles mehr. Man muss sie nicht füllen mit Förderungsprogrammen. Sie ist vielmehr eine eigene Art von Förderungsprogramm, das vielleicht nicht so deutlich messbar ist, aber um nichts weniger ersichtlich, wenn man sieht, welchen Entwicklungsschub Kinder gerade in diesen freien Zeiten machen. Die Ferienzeit ist eine Zeit des Reifens, wie man im jedem Herbst bei Schulbeginn immer wieder feststellen kann.
Mein größerer Sohn nahm letztes Jahr an einer Schülerdemo teil und zog danach den ganzen Vormittag mit anderen Demonstranten durch die Straßen. Als er zurückkam, war er sichtbar verändert. Er war größer geworden. Nicht wegen der Demonstration, sondern wegen der eroberten, der freien, der schulfreien Zeit. Das war eine erste Freiheitserfahrung. In diesem Sinne sollten wir unsere pädagogischen Diskurse überdenken: Keine Disziplinierung ohne Überschreitung. Keine Leistung ohne Auszeit. Keine Bildung ohne Freiheit.
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