Kommentar Ägypten: Ökonomie der arabischen Revolte
Ägypten und Tunesien gelten als ökonomische Musterschüler der Region. Doch von der Öffnung der Märkte und Privatisierungen profitierten nur die Eliten.
D as Regime in Ägypten spielt auf Zeit. Und tatsächlich mehren sich die Stimmen, die meinen, nun sei es aber gut - schließlich habe Mubarak doch eingelenkt und sein Regime eingewilligt, auf die Opposition einzugehen.
Es sind politische und soziale Forderungen, welche die Menschen in Ägypten und anderen arabischen Ländern in den letzten Wochen auf die Straße trieben. Nun haben die Proteste in Ägypten aber auch das Wirtschaftsleben des Landes lahmgelegt, was die soziale Not vieler Menschen verschärft. Die Preise für Brot, Reis und Gemüse haben sich mancherorts vervierfacht. In einem Land, in dem jeder Zweite mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen muss, stellt sich da selbst der Protest als ein Luxus dar, den sich nicht jeder leisten kann.
Bemerkenswert ist, dass die Proteste ausgerechnet in Ägypten und Tunesien am stärksten eskaliert sind: Beides sind prowestliche Regimes, die in den vergangenen Jahren ihre Wirtschaft liberalisiert haben und damit auch in ökonomischer Hinsicht bislang als Musterschüler in der Region galten. Doch von Privatisierungen, von der Öffnung der Märkte profitierte in Ägypten wie in Tunesien nur eine kleine Elite.
DANIEL BAX ist Redakteur im Meinungsressort der taz.
Das Gros der Bevölkerung litt unter steigenden Preisen, ökonomischer Verdrängung und wachsender Arbeitslosigkeit. Während die Landbevölkerung verarmte und das traditionelle Handwerk fast vollständig vernichtet wurde, wuchs die Wut auf eine Oberschicht, die ihren neuen Reichtum immer ungenierter zur Schau stellte.
Im Westen wird gerne übersehen, wie sehr die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich den Unmut in der Region angefacht und oft den Islamisten in die Hände gespielt hat. Nun fordern die Menschen politische Freiheiten, aber auch Jobs und soziale Sicherheit. Die Zukunft der arabischen Länder wird sich daran entscheiden, ob es ihnen gelingt, eine Balance zwischen wirtschaftlicher Liberalisierung, Demokratisierung und sozialer Gerechtigkeit zu finden.
Viele arabische Regimes, von Jordanien bis Marokko, haben die Gefahr erkannt und auf die aktuelle Protestwelle reagiert: zum Teil mit vorsichtigen politischen Zugeständnissen - mehr noch aber, indem sie die Subventionen für Brot und andere Grundnahrungsmittel erhöhten. Eine nachhaltige Politik ist das nicht, denn sie schafft keine Arbeitsplätze. Aber schon dieses Entgegenkommen ist ein erster Erfolg dieser panarabischen Protestbewegung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind