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Kommentar Ergenekon-ProzessPrekärer Freiheitsgewinn

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Der Prozess gegen zwei Ex-Genräle zeigt: Die Gesellschaft emanzipiert sich von ihrer Bevormundung durch die Armee. Demokratischer wird die Türkei deshalb noch lange nicht.

D er am Montag begonnene Prozess gegen zwei hohe Ex-Generäle in der Türkei zeigt, dass das Land dabei ist, sich grundlegend zu verändern: Männer aus dem militärisch-bürokratischen Komplex stehen plötzlich vor Gericht; Leute, die vor wenigen Jahren noch als unantastbar galten, sitzen in Untersuchungshaft; seit kurzem dürfen auch aktive Militärs vor Zivilgerichten angeklagt werden - und der Generalstabschef schweigt oder wird nicht mehr ernst genommen. Die türkische Gesellschaft emanzipiert sich von der Bevormundung durch die Generäle.

Bild: taz

Jürgen Gottschlich ist Türkei-Korrespondent der taz.

Damit geht ein jahrzehntelanger demokratischer Kampf seiner Erfüllung entgegen - allerdings nicht unbedingt im Sinne der demokratischen Kräfte des Landes. Die Art und Weise nämlich, wie die Entmachtung des Militärs vorangetrieben wurde, wirft Fragen auf. Träger dieses Prozesses ist die islamisch-konservative AKP von Ministerpräsident Erdogan und Präsident Gül.

In den ersten Jahren ihrer Regierungszeit war die AKP zweifellos ein Katalysator für Demokratisierung und Öffnung der türkischen Gesellschaft. Doch das hat sich geändert. Je länger Erdogan an der Macht ist, umso autokratischer regiert er. Die Militärs verlieren ihre Macht, aber die undemokratischen Herrschaftsinstrumente, die sie nach dem Putsch 1980 eingeführt haben, werden nicht abgeschafft, sondern für die eigenen Zwecke umfunktioniert. Die Presse wird gegängelt und die Religion benutzt, um Gegner einzuschüchtern.

Momentan erlebt die Türkei einen Freiheitsgewinn, aber der wird nur bleiben, wenn jetzt eine zivile Opposition entsteht und die Rolle, die das Militär in den bisherigen Jahren der AKP-Regierung gespielt hat, auf neue, demokratische Weise übernimmt. Noch ist diese zivile Opposition so schwach, dass Erdogan seinen Hang, sich als neuer Sultan zu gebärden, nahezu ungestört ausleben kann.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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5 Kommentare

 / 
  • S
    Sachary

    @Mehmet

     

    ich sehe das genauso wie du

     

    @JÜRGEN GOTTSCHLICH

     

    Herr Gottschlich eine Islamisierung der Türkei braucht niemand zu befürchten die größte eigentliche Bedrohung sind und waren immer die Kemalisten. Das können Ihnen alle christlichen und ethnische Minderheiten in der Türkei sicher bestätigen da diese zum größten teil die AKP wählen gehen. Wenn es wirklich etwas radikales in der Türkei gibt dann ist es der kemalistische Nationalismus.

  • D
    Demokrat

    Ein großes Lob an den Redakteur dieses Artikels. Selten liest man so einen differenzierten Artikel über die schleichende Islamisierung der türkischen Institutionen. Für den Ministerpräsidenten Erdogan ist die "Demokratie", wie wir sie kennen lediglich ein Instrument, um den türkischen Staat nach seinen Vorstellungen "umzubauen". Das Endziel ist für ihn die "Islamische Republik". Unterstützer dieser Bewegung ist unter anderem auch die Gulen Bewegung oder der verlogene und betrügerische Spendenverein "DenizFeneri".

     

    Ein Auszug aus einer Rede von Erdogan: "Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unserer Helme und die Gläubigen unsere Soldaten."

  • D
    Demokrat

    Ein großes Lob an den Redakteur dieses Artikels. Selten liest man so einen differenzierten Artikel über die schleichende Islamisierung der türkischen Institutionen. Für den Ministerpräsidenten Erdogan ist die "Demokratie", wie wir sie kennen lediglich ein Instrument, um den türkischen Staat nach seinen Vorstellungen "umzubauen". Das Endziel ist für ihn die "Islamische Republik". Unterstützer dieser Bewegung ist unter anderem auch die Gulen Bewegung oder der verlogene und betrügerische Spendenverein "DenizFeneri".

     

    Ein Auszug aus einer Rede von Erdogan: "Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unserer Helme und die Gläubigen unsere Soldaten."

  • M
    Mehmet

    Der sehr geehrte Autor schreibt mit den gängigen Flossen eines sanften Kemalisten...

     

    jedes mal wird behauptet, Erdogan würde die Religion als politisches Instrument benutzen aber leider sehe ich da keinen wirklichen Beleg dafür. Ganz im Gegensatz die kemalistische Opposition benutzt die Religion als politisches Instrument, wie Aussagen man wolle in jedem Viertel eine Koranschule gründen...

     

    Würde das die AKP sagen, wäre das ein handfester Beweis dafür, dass die schleichende Islamisierung kommt.

     

    Ob uns Erdogan gefällt oder nicht gefällt, seien wir doch ehrlich, die AKP Regierung ist ein Zentrum der türkischen Bevölkerung geworden in der sich alle Schichten vertreten.

     

    Und diese Partei ist die liberalste, die die Türkei je gesehen hat. Und das schreibe ich ohne zu übertreiben!

     

    Und meinem Vorredner kann ich nur sagen, dass demokratische Rechte nicht von heute auf morgen bzw. in sieben Jahren kommen.

     

    Die Kurden in der Türkei werden heute als ein Teil der Gesellschaft gesehen... Schauen Sie sich dazu die Aussagen der AKP-Politiker über Kurden an bzw. die vielen kurdisch stämmigen Politiker in der AKP.

     

    Die Kurden haben heute mehr Rechte als sie sich es vor sieben jahren erträumen konnten. Reicht es? Nein! Aber der Anfang wurde schon längst getan und deshalb hat die AKP fairerweise auch wenn wir die islamisch geprägte Regierung nicht mögen wollen, einen Schulterklopfer verdient.

     

    Gruß!

  • N
    Nadi

    Wer hier was gewinnt, finde ich jetzt noch ziemlich unklar. Und hier mal dieses Zitat: "Verfahren zum Verbot der kurdischen Partei für demokratische Gesellschaft (DTP) eingeleitet ... In ihr heißt es, die DTP sei zum "Mittelpunkt von Aktivitäten gegen die unteilbare Einheit des Staats mit seinem Land und seiner Nation" geworden. Die DTP wäre seit 1991 die siebte kurdische Partei, die das Verfassungsgericht verbietet. Im Parlament ist die DTP seit den Wahlen vom 22. Juli mit 20 Abgeordneten vertreten, im kurdischen Südosten der Türkei stellt sie 56 Bürgermeister. Gegen alle waren bereits vor dem Verbotsverfahren Ermittlungen eingeleitet worden." Das habe ich von der FAZ.

    Also, ganz so schön ist diese neue Türkei nicht, vielleicht spüren das die Kurden deutlicher, aber von einer wirklichen Demokratisierung und von einer Aufhebung absurder Gesetze und kafkaesker Meinungsunterdrückung ist das Land m.M. noch weit entfernt.

    Orhan Pamuk sagte mal, dass es in der Türkei einfach nicht üblich sei, seine Meinungen liberal auszutauschen. Das gelte nicht nur für ihn, sondern auch für einen Sportreporter, der eine negative Analyse über eine Manschaft oder einen Spieler schreibe.

    Ob diese pensionierten Generäle wirklich in diesen Verfahren verurteilt werden? Und wie gut sind eigentlich die Beweise? Sollte dieser Prozess ein Machtkampf zwischen Militär und AKP werden, würde ich sagen, dass es mit der Türkei noch weiter bergab geht.

    Dann gibt es nicht einen diktatorischen Regisseur im Hintergrund, sonder gleich zwei und die bekämpfen sich auch noch.

    Also, mein Optimismus ist stark eingeschränkt, wenn ich ausgerechnet diesen Prozess hier als ein Zeichen für eine tiefgreifende Liberalisierung des Landes betrachten soll.

    Es würde mich wundern, wenn die Mitglieder von JITEM, MIT, Armee und Gendarmerie, wenn Dorfschützer für Vergewaltigungen, Drogenschmugel, FOlter und Verschwindenlassen wirklich vor Gerichten landen würden. (Es wären wohl 10.000ende Prozesse dann zu erwarten)

    Argentinien hat einen langsamen Weg der Aufarbeitung hinter sich - bei der Türkei hat er m.M. noch gar nicht angefangen.