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Der amerikanische Sonderweg

US-Präsident Bush will die guten Staaten vor den Raketen der Schurken beschützen. Dieses Projekt ist in Zeiten atomarer Sprengköpfe nicht nur abwegig – es schwächt internationale Institutionen wie die UNO. Eine konzise Studie von Eric Chauvistré

Nicht die Quantität der Waffen entscheidet, sondern die atomare Qualität

von SIBYLLE TÖNNIES

Das Wort Atombombe wirkt schon ein bisschen altmodisch. Es klingt nach Omas, die Kerzen in Fenster stellen, oder nach „Dicke Bertha“ – jene berühmte Kanone, die Krupp einst nach seiner Frau benannte. Zwanzig Jahre nach der Friedensbewegung scheint die Bombe ein Problem von gestern zu sein – und ein Buch mit dem Titel „Das atomare Dilemma“ zieht nicht unbedingt Neugierde auf sich.

Wie aktuell das neue Buch von Eric Chauvistré ist, verrät erst dessen Untertitel „Die Raketenabwehrpläne der USA“. Denn: Kern der amerikanischen Rüstungsanstrengungen sei es, ein Bewusstsein zu überwinden, das man satt hat. In einer Welt, die eine eindeutige militärische Supermacht herausgebildet hat, passt die Furcht vor der Bombe nicht mehr in das Lebensgefühl derjenigen, die sich dieser Supermacht zugehörig fühlen. Es verletzt ihren Narzissmus, dass auch sie vor einem verheerenden Atomschlag nicht sicher sind. Ja, sie wollen sich in einer Pax Americana wohlfühlen, die den Zustand der atomaren Bedrohung überwindet.

Dieses Ziel hält Chauvistré schlichtweg für unerreichbar. Auch wenn wir den Gedanken satt haben, dass die Erfindung der Atombombe das Gesicht der Welt in epochaler Weise verändert hat, so ist er doch immer noch richtig. Atombomben sind die großen „Gleichmacher“: Selbst militärisch schwache Staaten erringen durch sie einen besonderen Status, der den genauen technischen Standard ihrer Waffen und die Größe ihrer Arsenale unerheblich macht. Sie sind „Nicht-Clausewitz’sche-Waffen“, wie Carl Friedrich von Weizsäcker einmal gesagt hat: Für sie hat der Satz des Preußen, dass bei gleicher Quantität der Waffen die Verteidigung dem Angriff überlegen ist, keine Gültigkeit.

Chauvistré zieht zur Erläuterung den amerikanischen Rüstungsexperten Bernhard Brodie heran. Er erklärte 1946 die neue, absolute Qualität der Atomwaffen nicht etwa an Hiroshima und Nagasaki, sondern am Beispiel der Flugbombe V-1, die von der deutschen Wehrmacht 1944 gegen London eingesetzt wurde. Die V-1 war im Prinzip ein kleines, sich selbst steuerndes Flugzeug, ein sehr primitiver Vorläufer der heutigen Marschflugkörper und daher noch leicht abzuwehren. Von den 101 V-1-Flugkörpern, die die deutsche Wehrmacht (an einem beispielhaft herausgegriffenen Tag) auf London abfeuerte, konnten deshalb 97 von der englischen Luftabwehr abgeschossen werden – mit anderen Worten: Die Verteidigung war erfolgreich. Hätte es sich allerdings um Atombomben gehandelt, so wäre selbst diese fast vollständig erfolgreiche Verteidigung ein Misserfolg gewesen.

Wesentlich bessere Ergebnisse als die damalige englische Flugabwehr wird auch die National Missile Defence (NMD) nicht erzielen können, meint Chauvistré. Es gilt ja immerhin, „Gewehrkugeln abzuschießen“. Das Ziel, das sich die amerikanische Rüstung gestellt hat, ist unerreichbar. „Nicht eine darf durchkommen“ – diese Zielsetzung ist zu hoch gesteckt, als dass man die Weltpolitik auf ihrem Erfolg aufbauen dürfte und die konsensualen Strukturen verlassen dürfte, innerhalb derer die UNO den Weltfrieden zu wahren sucht.

Innerhalb dieser Strukturen haben die souveränen Staaten Respekt voreinander und erkennen das völkerrechtliche Prinzip der Staatengleichheit an. Jeder von ihnen wird wie ein würdiges Mitglied und nicht, hätte er es auch verdient, als Schurkenstaat behandelt. Dieses Konzept wird mit der amerikanischen Raketenabwehr verlassen: Von nun an soll die Souveränität der Guten beschützt und diejenige der Schlechten missachtet werden. Die bittere Wahrheit der Gleichmacher-Funktion der Atombombe wird ignoriert.

Mit dem Begriff der Schurkenstaaten (rogue states), seiner Bedeutung und seiner Entstehung, befasst sich Chauvistré ausführlich. Oft ist diese Zuschreibung offenbar unverdient. Dem „Club Mad“ (ein Begriff, der im englischen Sunday Telegraph aufkam) werden je nach Opportunität wechselnde Nationen zugeschrieben. Neue, jeweils zu definierende Gegner werden erfunden. Damit setzen die Vereinigte Staaten die Unterscheidung zwischen zivilisierten und schurkigen Staaten aus dem Kalten Krieg fort. Sie zerstören die Chance, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus endlich eine One-World-Politik aufzunehmen; sie unterminieren die Anstrengungen der rechtmäßig eingesetzten UNO genauso, wie das schon 1950 die Doktrin des Containments getan hat.

An diese Doktrin der Eindämmung des Kommunismus knüpfte Clintons Sicherheitsberater Anthony Lake explizit an, einer der Verantwortlichen des neuen Konzepts. Die Schurkenstaaten ersetzen die Sowjetunion. Lake gestand ein, dass das wichtigste Kriterium für die Einstufung als Schurkenstaat nicht ihre Missachtung der Menschenrechte, sondern das Bedürfnis der amerikanischen Staatsräson sei: Iran und Irak würden im Unterschied zu anderen undemokratischen Staaten in diese Kategorie gehören, „weil sie nebeneinander am Ufer des Persischen Golfs liegen, wo 75 Prozent der Erdölreserven lagern“.

Chauvistré meint: Wenn sich die deutsche Regierung in der NMD-Frage von den USA abgrenzte, begäbe sie sich keineswegs in eine Sonderrolle. Es seien vielmehr die USA, die mit der absoluten Unverwundbarkeit ihres Territoriums einen Sonderstatus anstrebten. Ein erstes europäisches Nein erhofft er sich aus Dänemark, schließlich erfordert die Raketenabwehr zunächst die Umrüstung der grönländischen Radarstation in Thule.

Schade: Die Deutschen können ihr gedrücktes nationales Selbstbewusstsein nicht durch die Zugehörigkeit zu einer unverwundbaren Supermacht sanieren. Die Ubiquität des spaltbaren Materials zwingt auch die USA zur Unterordnung unter das Prinzip der Staatengleichheit – und zu einer militärischen Selbstbeschränkung, die innerhalb der Strukturen der UNO vertragsgemäß weitergeführt werden muss. Eric Chauvistré hat über das atomare Dilemma ein lesenswertes und gut lesbares Buch geschrieben, das vielen helfen kann, sich eine Meinung zu bilden.

Eric Chauvistré: „Das atomare Dilemma. Die Raketenabwehrpläne der USA“. Espresso Verlag, Berlin 2001, 160 Seiten, 24,90 DM (12,73 €)

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