Debatte Gefährdeter Atomausstieg: Zeitzünder im Atomgesetz
Wer jetzt fordert, das AKW Krümmel endgültig abzuschalten, riskiert, dass sich der Atomausstieg weiter hinauszögert.
In einem Punkt sind sich die Kontrahenten in Sachen Atomenergie derzeit einig: Bleibt es nach der Bundestagswahl bei dem von Rot-Grün mit den Stromkonzernen im Jahr 2000 ausgehandelten Atomgesetz, dann wird der Ausstieg in der kommenden Legislaturperiode kräftig Fahrt aufnehmen. Entsprechend warnt der Präsident des Deutschen Atomforums bei jeder Gelegenheit davor, dass in den nächsten vier Jahren ganze sieben Reaktorblöcke stillgelegt werden müssten. Wenn sich an den gesetzlichen Rahmenbedingungen nichts ändert, so Walter Hohlefelder, drohe Deutschland die Stromlücke.
Die Grünen ihrerseits und zum Teil auch die SPD versuchen mit der Verheißung von sieben abgeschalteten AKWs im Wahlkampf zu punkten. Immerhin hat sich in den ersten elf Jahren, seitdem Rot-Grün angetreten ist, den Ausstieg zu organisieren, nicht allzu viel getan. Von den 19 Reaktoren, die damals in Betrieb waren, sind mit Stade und Obrigheim bislang nur die beiden kleinsten dauerhaft vom Netz. Insofern verspürt nun mancher in der grünen Partei die Hoffnung, er oder sie habe es mit dem von der Anti-AKW-Bewegung vielgescholtenen Atomkonsens doch irgendwie richtig gemacht.
Jochen Stay ist Aktivist und Autor aus der Anti-Atom-Bewegung. Außerdem ist er Sprecher der Anti-Atom-Initiative "Ausgestrahlt". www.ausgestrahlt.de
Vor vier Jahren, als sich die SPD in den Koalitionsverhandlungen mit der Union in Sachen Atompolitik auf ganzer Linie durchgesetzt hatte, wurde prognostiziert, dass bis zum Ende dieser Legislaturperiode die vier ältesten Atommeiler Biblis A und B, Brunsbüttel und Neckarwestheim 1 stillgelegt werden. Denn die Betriebsgenehmigung erlischt laut Atomkonsens dann, wenn die von Rot-Grün und den Stromkonzernen für jeden Reaktor individuell vereinbarten Stromkontingente produziert sind. Weil aber diese Reststrommengen im Gegensatz zu Restlaufzeiten nur dann schwinden, wenn ein AKW tatsächlich Atomstrom produziert, ist aus dem angekündigten schrittweisen Ausstieg bisher nichts geworden. Biblis und Brunsbüttel wurden in den letzten vier Jahren so oft wegen Störfällen und Reparaturen vom Netz genommen, dass sie ihre Kontingente noch immer nicht aufgezehrt haben. Und die Betreiber des AKW Neckarwestheim lassen ihren Block 1 seit Monaten nur noch auf halber Leistung laufen, damit auch dieses Kraftwerk über die Bundestagswahl gerettet werden kann.
Angesichts der Wahl werden jetzt von allen Seiten die aktuellen Reststrommengen pro AKW in ungefähre Betriebsjahre umgerechnet. Man möchte absehen können, ob, wie und wann der schon so lange angekündigte Atomausstieg stattfinden wird. Sowohl die Atomlobby als auch die Atomkritiker kommen dabei auf jene Anzahl von sieben stillzulegenden Atomkraftwerken. Dabei übersehen jedoch beide Seiten einen Satz im Atomgesetz, der alles verändern kann: So heißt es in Paragraf 7, Absatz 1 b, letzter Satz: "Die Zustimmung nach Satz 2 ist nicht erforderlich, wenn die abgebende Anlage den Leistungsbetrieb dauerhaft einstellt und ein Antrag nach Absatz 3 Satz 1 zur Stilllegung der Anlage gestellt worden ist."
Worum geht es? Laut Atomkonsens ist es möglich, Reststrommengen von einem Reaktor auf einen anderen zu übertragen. Das Gesetz sieht vor, dass in der Regel nur Strommengen von älteren auf jüngere Kraftwerke übertragen werden. Für die umgekehrte Übertragung von "jung" auf "alt" ist eine Ausnahmegenehmigung der Bundesregierung notwenig. Diese wurde in den letzten Jahren von Umweltminister Sigmar Gabriel mehrfach verweigert. Es gibt aber einen Sonderfall: Wird nicht nur ein Teil der Reststrommengen von einem jüngeren Reaktor übertragen, sondern das AKW vor seiner vereinbarten Zeit endgültig stillgelegt, dann ist nach Paragraf 7 Atomgesetz keine Zustimmung des Ministers für die Übertragung der restlichen Kontingente erforderlich.
Bis vor Kurzem war ein solches Szenario denkbar unwahrscheinlich. Welcher Stromkonzern sollte schon freiwillig ein neueres Atomkraftwerk abschalten, mit dem sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch eine Unmenge Geld verdienen lässt? Doch seit diesem Sommer, seit dem erneuten Trafoausfall im AKW Krümmel bei Hamburg und dem wiederholt dilettantischen Krisenmanagement des Vattenfall-Konzerns, das selbst CDU-Politiker die Abschaltung fordern lässt - seit Krümmel also gibt es diesen Ausnahmefall, und der hat weitreichende Folgen.
Angenommen, dem Drängen der Stromkonzerne auf eine generelle Laufzeitverlängerung wird von der nächsten Bundesregierung nicht entsprochen, sondern das Atomgesetz bleibt, wie es ist, dann könnte die vorzeitige Stilllegung des Atomkraftwerks Krümmel im Extremfall dazu führen, dass kein weiterer Reaktor vor der Bundestagswahl 2013 abgeschaltet werden muss. Krümmel ist, was viele nicht wissen, einer der neueren Atommeiler und hat aktuell noch Produktionsrechte über eine Reststrommenge von fast 90.000 Gigawattstunden. Wird diese geschickt auf die sieben ältesten Atomkraftwerke übertragen, die in der kommenden Legislaturperiode ihre eigenen Stromkontingente aufbrauchen werden, dann könnten sie alle über 2013 hinaus gerettet werden.
Die Krux ist folgende: Sowohl Sigmar Gabriel als auch die Grünen fordern im Wahlkampf die Stilllegung des Pannenreaktors Krümmel. Gibt Vattenfall klein bei, dann wäre dies kein Sieg für die Atomkritiker. Sondern im Gegenteil: Die Ausstiegsparteien hätten ein riesiges Problem. Wer also wirklich dafür sorgen will, dass in der nächsten Legislaturperiode der lang versprochene Ausstieg endlich umgesetzt und eine relevante Anzahl von Atomkraftwerken stillgelegt wird, der kann sich nicht auf die aktuelle Gesetzesfassung berufen. Stattdessen stehen SPD und Grüne in der Pflicht zu erklären, wie sie den Weiterbetrieb der Reaktoren konkret verhindern wollen. Sonst droht seitens der Atomwirtschaft ein Bauernopfer Krümmel, und der ganze Atomausstiegs-Wahlkampf endet in einem riesigen Wählerbetrug.
Im aktuellen Atomgesetz lauern noch weitere solche Zeitzünder, von den Verhandlern der Atomlobby während der Konsensgespräche geschickt platziert. Es besteht also dringender gesetzgeberischer Handlungsbedarf, wenn aus dem Ausstieg wirklich etwas werden soll. JOCHEN STAY
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