50 Jahre Türkinnen in Deutschland: "Mit Heirat war ja nicht zu rechnen"
Schriftstellerin Hatice Akyün wollte es von ihrem in der Türkei aufgewachsenen Vater wissen: Hat ihn die Einwanderung verändert? Wie sieht er sein Leben - und das seiner Kinder?
Sie trafen sich in ihrer alten neuen Heimat, Duisburg: Eine Woche lang, Abend für Abend, tauschte sich die Schriftstellerin Hatice Akyün mit ihrem Vater Rafet Akyün, Bergmann, aus. Ihr Thema: Was ihre Familie zusammenhält.
Hatice Akyün: Baba, erinnerst du dich noch an die Geschichte mit dem Traktor?
Rafet Akyün: Ich ließ dich damit fahren, obwohl das in unserem Dorf reine Männersache war.
Es war eine Revolution! Ich war zwölf Jahre alt, wir waren in den Ferien in der Türkei, und du sagtest, nimm den Traktor und fahr Wasser holen. Die anderen sind fast durchgedreht.
Ich dachte, du musst das auch mal ausprobieren. Und das Wasserholen hast du ja geschafft, nur den Weg zurück hast du nicht mehr gefunden.
Das war so peinlich. Ich habe mich verfahren und einen Mann gefragt: Wo ist denn das Feld von Rafet Akyün? Der hat mich für sehr dumm gehalten. Jeder weiß, wo sein Feld liegt. Bis heute lachen die mich aus.
Aber du hast etwas daraus gelernt, nämlich, dass ich dir vertraue. Und dass du lernen sollst. Das Wichtigste, was du einem Kind hinterlassen kannst, ist Bildung. Geld und Reichtum, das alles kommt und geht. Bildung ist unvergänglich.
Trotzdem war es euch nicht wichtig, auf was für eine Schule wir kommen. Zu meiner Schulzeit haben die Lehrer festgelegt, dass alle Türkenkinder auf die Hauptschule gehen.
Wir wussten damals überhaupt nicht, was der Unterschied zwischen einer Hauptschule und dem Gymnasium war.
42, war mit ihren autobiografisch gefärbten Büchern "Einmal Hans mit scharfer Soße" (2005) und "Ali zum Dessert" (2008) sehr erfolgreich. Akyün, geboren 1969 in der Türkei, wuchs von 1972 an in Duisburg auf, wo sie zunächst eine Ausbildung als Justizangestellte machte. Später studierte sie Betriebswirtschaft und begann als Journalistin zu arbeiten, unter anderem für den Spiegel und als Society-Reporterin der Zeitschrift Max. Akyün lebt heute mit ihrer dreijährigen Tochter in Berlin. Ihre "türkische Seele" habe sie sich bewahrt, sagt sie.
Das wäre mal ein sinnvoller Schritt in Richtung Integration gewesen, den Eltern diese Unterschiede zu erklären. Dann wären viele Lebenswege ganz anders verlaufen. Aber viele waren so wie du, mit einer Hörigkeit gegenüber deutschen Behörden.
Das war keine Hörigkeit, sondern Respekt. Ich hatte ja bei der ärztlichen Untersuchung in der Türkei, bei der die deutschen Behörden die Tauglichkeit der Gastarbeiter geprüft haben, die deutsche Genauigkeit kennengelernt. Deshalb war ich mir sicher, dass in diesem Land alles ein funktionierendes, durchdachtes System haben muss.
Wohin das alles führt, hat niemand geahnt. Das Anwerbeabkommen mit der Türkei, das am 1. September 1961 in Kraft getreten ist, hat die Republik grundlegend verändert. Die Türken kamen, viele blieben. Und heute? Sind sie Deutschland, genau wie der Rest. Betrachtet man diese Entwicklung einmal ganz unaufgeregt, kann man zu dem Schluss kommen: Die Einwanderung aus der Türkei ist eine Erfolgsgeschichte.
Natürlich gibt es Probleme. Wie sollte sich eine so tiefgreifende Veränderung auch ohne vollziehen? Aber verengen wir den Blick einmal nicht auf sie, wie es die Sarrazins dieser Welt so gerne tun. Dann sehen wir: Das Zusammenleben klappt vielerorts erstaunlich gut. Registrieren wir also endlich: Vieles wird besser. Die Anzahl der türkischstämmigen Abiturienten und der binationalen Ehen steigt, die Mittelschicht wächst, selbst die Anzahl der Einbürgerungennimmt wieder zu. Türkischstämmige Abgeordnete sitzen in vielen Parlamenten, sie werden Grünen-Chef und niedersächsische Sozialministerin.
Fatih Akin steht für den deutschen Film, Feridun Zaimoglu für die deutsche Literatur, Mesut Özil für den deutschen Fußball. Sie alle sind ein Gewinn. Und sie zeigen: Es kann klappen mit dem Aufstieg - und dem Mitmischen. Wir setzen auf ein Happy End. (Sabine am Orde, stellvertretende Chefredakteurin)
Die taz vom 1. September mit sieben Sonderseiten zum Thema 50 Jahre TürkInnen in Deutschland. Ab Donnerstag am Kiosk oder unter taz.de/ekiosk
Wie kamst du darauf, nach Deutschland zu gehen?
Viele Männer gingen damals hierher, um zu arbeiten. Dann kamen sie zurück und schmissen mit Geld nur so um sich. Es war kaum zu glauben. Ich wollte sehen, wie das funktioniert.
In ein Land, dessen Sprache du nicht sprichst? Als was wolltest du arbeiten? Du hattest außer Feldarbeit keinen Beruf gelernt.
Man erzählte sich, das Geld liege hier auf der Straße, man müsse es nur aufheben! Ich ahnte schon, dass es einen Haken geben würde. Aber ich war jung, gesund und dachte, ich schaffe das schon. Erst mal musste man zur Musterung. Das war die größte Hürde. Man wurde schon abgelehnt, wenn einem Zähne fehlten. Und es war eine große Schande, wenn man in sein Dorf zurückkehren musste. Man war gleich nicht mehr heiratstauglich in den Augen der anderen. Bei der Musterung 1969 waren wir 100. Nur 47 haben es nach Deutschland geschafft. Ich habe dann in Duisburg im Bergbau gearbeitet.
Wir kamen drei Jahre später nach, 1972. Dabei wolltest du eigentlich gar nicht bleiben.
Mein Plan war, etwas Geld zu verdienen, um ein Haus in der Türkei zu bauen und einen Traktor zu kaufen. Als uns hier "vermögenswirksame Leistungen" (in den Siebzigern populäre, tarifvertraglich geregelte Sonderzahlungen an Arbeitnehmer in einen Fonds, d. Red.) angeboten wurden, dachte ich noch: So lang, wie die Mindestlaufzeit sein soll, bleiben wir doch gar nicht!
Als Kinder haben wir immer auf gepackten Koffern gesessen. Die schöne Kaffeemaschine blieb unausgepackt auf dem Schrank, neben dem guten Geschirr und dem funkelnagelneuen Fernseher. Alles war für "zu Hause" bestimmt. Eure Unschlüssigkeit machte es mir schwer, mich in Deutschland einzuleben. Ich wusste nicht mal, ob wir lange genug bleiben, um Freundschaften aufzubauen. Hast du dir je überlegt, wie wir Kinder uns fühlten?
Natürlich, aber wie hätte ich euch die Sicherheit geben können, die ich selbst nicht hatte? Deine Mutter und ich waren ja überzeugt, dass wir nicht lange bleiben würden. Euch haben wir deshalb auch sehr türkisch und mit der türkischen Sprache erzogen. Wir wollten nicht, dass ihr euch in der Türkei fremd fühlt oder eure Großeltern nicht mehr versteht.
Habt ihr deshalb nie versucht, richtig Deutsch zu lernen? Weil ihr dachtet, dass ihr Deutschland bald verlasst?
Ich bekam einen vierwöchigen Deutschkurs, danach lernte ich, mich durchzuschlagen.
Erstaunlich, bei dem, was sie dir da beigebracht hatten …
Ja, meinen Namen, meine Adresse und die Geburtsdaten aller Familienangehörigen. Das kann ich bis heute fehlerfrei aufsagen.
Ja, und uns hast du es auch beigebracht. Ich konnte die Hausnummer fünf nie richtig aussprechen und habe immer "tüv" gesagt, was du mir bis heute vorhältst.
Ich hatte Sorge, dass du es nie lernst!
Ich war drei Jahre alt! Mutter weigert sich immer noch, Deutsch zu lernen. Ihr Argument: Vater hat 30 Jahre Steuern gezahlt, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, das hat auch niemanden gestört. Du hast aber viel Wert darauf gelegt, dass wir Deutsch lernen.
Anfangs dachte ich, es ist gut, wenn ihr mit einer zweiten Sprache in die Heimat zurückkehrt. Die Leute sollten euch nicht für ungebildet halten. Dann hatten wir einen Hodscha in der Moschee, der sagte uns immer, dass wir Deutsch lernen müssen, um uns wehren zu können. Also solltet ihr Kinder Deutsch lernen, um es leichter zu haben als wir.
Noch heute in der dritten Generation gibt es Kinder, die Deutsch nicht beherrschen.
Aber nicht, weil sie dumm sind. Es liegt an den Familien, sie kümmern sich nicht genug um ihre Kinder. Manche denken auch, mein Kind schafft das sowieso nicht. Vertrauen in die Kinder ist sehr wichtig. Wie sollen Kinder an sich selbst glauben, wenn die eigenen Eltern das nicht tun? Die Eltern sollten ihre Kinder so früh wie möglich in den Kindergarten schicken.
Wenn es nach unserer Mutter gegangen wäre, wären wir nie aus dem Haus gekommen. Wir waren nicht im Kindergarten.
Ja, und als du deine Ausbildung angefangen hast, hat sich deine Mutter Sorgen gemacht, was die anderen Frauen in der Moschee zu ihr sagen. Bei uns musste eine Frau nicht arbeiten, der Mann musste genug verdienen, um seine Familie zu ernähren.
Aber wir leben doch nicht mehr im anatolischen Dorf!
Das war schon immer deine Schwäche, meine Tochter: Du bist zu ungeduldig und lässt niemanden ausreden. Wir haben damals so gedacht, weil wir nichts anderes kannten! Dass sich das verändert hat, dass die Welt sich ändert, ist mir nicht nur bewusst, ich finde es auch gut. Jeder Mensch, egal ob Frau oder Mann, sollte finanziell auf eigenen Füßen stehen.
Mein alter, anatolischer Vater ist ein Befürworter der Emanzipation?
Das hat doch nicht nur mit Emanzipation zu tun. Was ist, wenn der Ehemann krank wird oder stirbt? Jede Frau sollte einen Beruf haben, damit sie nicht von ihrem Mann abhängig ist. Damit die Kinder versorgt sind.
Dir hat es Spaß gemacht, mich in der Schule zu unterstützen. Auch wenn du mir bei den Hausaufgaben nicht helfen konntest, hast du mir die Bild-Zeitung zur Weiterbildung mitgebracht.
Die las man eben im Bergbau.
Ich freute mich über deinen Versuch, mich zu fördern. Bei meinen türkischen Freundinnen hieß es meist: "Wozu Bildung? Du heiratest doch sowieso!"
Mit einer Heirat war bei dir ja noch nie zu rechnen.
Mir reichte die Ausbildung nicht, ich holte mein Abitur nach und machte ein Zeitungsvolontariat. Damit konntest du gar nichts anfangen. Was ist schon eine Zeitung? Im Dorf gab es nicht mal eine. Und dann die anderen Familien, die immer über uns gelästert haben: Schau mal, Rafet lässt seine Tochter arbeiten. Wie hast du das empfunden?
Ich habe mir das nie zu Herzen genommen. Und natürlich gibt es jetzt Leute, die mir sagen, du hast es richtig gemacht mit deinen Kindern, du hattest recht. Wir gratulieren dir zum Erfolg deiner Tochter.
Aber du hast dich auch entwickelt, vom strengen zum modernen Vater. Als ich in der Pubertät war, durften wir nicht, was unsere deutschen Freundinnen durften. Wir durften abends nicht raus, und wenn, hast du kontrolliert, wo wir hingehen, wer unsere Freunde sind.
Ich hatte große Angst, euch zu verlieren.
Aber man verliert doch sein Kind nicht, wenn es seinen eigenen Weg geht.
Ich musste lernen, dass man seine Kinder gehen lassen muss. An dem Tag, als du von zu Hause auszogst, brach mein Herz. Ich habe die erste Nacht, in der du nicht mehr zu Hause warst, in deinem Bett gelegen und geweint. Ein Kind in die Ehe, in eine neue Familie zu verlieren, war für mich einfacher, weil es gewohnter war. So war das eben in unserer Kultur. Ein Kind an die Selbstständigkeit zu verlieren, das musste ich erst lernen. Wenn du Kinder hast, hast du Angst, dass sie den falschen Menschen begegnen. Das musst du doch jetzt, wo du selbst Mutter bist, verstehen.
Ja, schon. Aber du warst manchmal total inkonsequent. An einem Tag ganz der strenge türkische Vater, am nächsten Tag hieß es: Fahr ruhig auf deine Abschlussfeier, geh auf den Geburtstag.
Woher sollte ich wissen, wie ich euch erziehen muss? Wie meine Eltern auf dem Land, in unserem Dorf, konnte ich es ja wohl nicht machen. Ich habe versucht, euch beides mitzugeben. Wobei ich dem Türkischen immer den Vorrang gegeben habe.
Im Nachhinein finde ich, du hast es gut gemacht. Du hast kein deutsches Fernsehen geschaut, keine Zeitung gelesen und dennoch viel über die Gesellschaft, in der du lebst, gelernt. Durch das Leben.
Ich musste auch einen Kampf führen.
Stimmt, vielleicht sogar einen viel größeren als ich. Ich musste mich nicht vor jedem rechtfertigen wie du, in der Moschee, in der Nachbarschaft, bei Arbeitskollegen. Du musstest dich gleich zwei Gesellschaften stellen, der deutschen und der türkischen, und nicht nur dich und deine Entscheidungen, sondern auch mich verteidigen.
Das Wichtigste war, mich vor Allah verteidigen zu können. Was die Leute reden, ist vergänglich. Wenn du einen anderen Weg gegangen wärest, den Türken geheiratet hättest, den sich alle wünschten, auch dann würden sie lästern, weil sie eben lästern wollen. Ich habe vollstes Vertrauen in meine sechs Kinder, die ich ehrenvoll erzogen habe. Nie habe ich Sorgen gehabt, dass ihr irgendwo Schaden anrichtet. Aber weil du alles anders machen wolltest, befürchtete ich, du wendest dich von Allah ab. Deshalb hab ich dir immer gesagt: Egal wie du lebst, verlier nie deinen inneren Glauben. Glaub an Allah, er wird dich immer weisen. Das ist der Islam, wie ich ihn verstehe. Ich hatte Angst, dass du den Rat nicht ernst genug nimmst.
Wann hast du gemerkt, dass ich auf eigenen Füßen stehen kann?
Du hattest dir eine eigene Wohnung gemietet, ich habe dich besucht und mir dein neues Zuhause angeschaut. Da habe ich gesehen, wie du das alles alleine geschafft hattest. Mit 19 Jahren. Nicht einmal Geld wolltest du noch von uns haben.
Ich bin die Deutsche in der Familie, und ich weiß, dass ich ganz gewiss nicht in die Türkei zurückkehren werde. Aber was ist mit euch?
Wir bleiben. Die ganze Familie ist hier, fast alle Kinder, die Enkel. Wir halten es nicht lange aus, euch nicht zu sehen. In der Türkei haben wir ein traumhaftes Haus, aber was nützt das, wenn du deine Kinder und Enkelkinder vermisst?
Ist das wirklich der ganze Grund?
Na ja, wir fühlen uns hier auch zu Hause, der Alltag ist viel einfacher, die Ärzte, die Handwerker, die wirklich kommen, wenn man sie bestellt. Früher ging es uns immer darum, eines Tages heimzukehren, um in der Türkei den Rest unseres Lebens zu verbringen. Heute ist das anders. Aber zum Sterben möchte ich in die Türkei. Ich möchte in meiner Heimat begraben sein, neben meinen Eltern, in unserem Dorf. Von dort bin ich gekommen, dorthin möchte ich zurück.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen