Wahlen in Großbritannien: Zünglein an der Waage
Die Liberalen Demokraten unter Führung von Nick Clegg sind die größte Überraschung im britischen Wahlkampf. Derzeit liegen sie noch vor der Labour-Partei.
DUBLIN taz | Jetzt wird er übermütig. Falls die regierende Labour Party bei den britischen Wahlen am 6. Mai hinter den Liberalen Demokraten landen sollte, verlange er Premierminister Gordon Browns Kopf als Preis für eine Koalition mit Labour, sagt Liberalen-Chef Nick Clegg. Ein solches Szenario ist gar nicht so abwegig, denn nach neuesten Meinungsumfragen liegen die Tories bei 33 Prozent, die Liberalen bei 30 und Labour bei 28 Prozent.
Wegen des Mehrheitswahlrechts könnte Labour dennoch mehr Unterhaussitze als die anderen beiden Parteien gewinnen. Bei dem britischen Wahlverfahren ziehen die Kandidaten ins Parlament ein, die in ihrem Wahlkreis die Mehrheit auf sich vereinigen können. Alle anderen Stimmen verfallen. Dieses Prinzip heißt auch "the winner takes it all" - der Gewinner bekommt alles. Die Labour-Stimmen sind vor allem in den Industrieregionen von Nordengland, Schottland und Wales stärker konzentriert, und die dortigen Wahlkreise sind kleiner.
Cleggs Vorbedingung für jede Art von Koalition ist deshalb die Einführung des Verhältniswahlrechts, damit kleinere Parteien im Unterhaus nicht länger unterrepräsentiert sind. Bislang gehörten die Liberaldemokraten dazu. Dann kam das erste der drei Fernsehduelle zwischen Clegg und den beiden anderen Parteichefs Gordon Brown und David Cameron.
Clegg gewann die Debatte vor zwei Wochen laut Meinungsumfragen haushoch. Er hatte es geschafft, den Eindruck zu erwecken, er sei der einzige ehrliche Politiker im Land. In Anbetracht der Skandale um Spesen, bezahlte Lobbyarbeit und Steuerflucht, die vor allem die beiden großen Parteien betreffen, konnte sich der Liberaldemokrat überzeugend als Erneuerer präsentieren. Diese Rolle hatten die Tories eigentlich ihrem Parteichef zugedacht.
Für Cameron, wie auch für Brown, war es ein Weckruf. Hatten beide die Liberalen Demokraten zunächst als Mehrheitsbeschaffer umgarnt, zogen sie in der zweiten Runde, in der es vorigen Donnerstag um Außenpolitik ging, die Samthandschuhe aus. Doch auch diesmal machte Clegg vor vier Millionen Zuschauern keine schlechtere Figur als seine Kontrahenten.
Er kommt vor allem bei jungen Leuten an. Zwei Drittel der 18- bis 24-Jährigen trauen den Liberalen zu, für frischen Wind zu sorgen. Und auch viele Linke liebäugeln mit Clegg, denn die Liberalen stehen in den meisten Punkten längst links von Labour. Sie sind proeuropäischer; sie treten für Bürgerrechte ein, die im Zuge der Terrorismusbekämpfung auf der Strecke geblieben sind; sie waren gegen den Irakkrieg; sie befürworten Steuererhöhungen zugunsten der öffentlichen Dienste, wollen auf Atomwaffen verzichten und haben ein recht grünes Programm.
Mit den Tories passt da nicht viel zusammen, auch wenn Clegg eine Koalition mit ihnen nicht ausgeschlossen hat. Das würden ihm seine Wähler allerdings übel nehmen, mehr als drei Viertel sind dagegen. Die Tories sind so beunruhigt über Cleggs plötzlichen Aufstieg, dass sie eine Verleumdungskampagne angezettelt haben.
Die Zeitungen, die den Tories nahe stehen, behaupteten, dass Parteispenden für die Bezahlung eines Angestellten auf Cleggs Privatkonto gewandert seien. Clegg konnte jedoch nachweisen, dass alles seine Ordnung hatte. Die Mail on Sunday sprach dem Liberaldemokraten gar seine britische Identität ab und wies auf seine spanische Frau, seine niederländische Mutter und seinen halbrussischen Vater hin. Titel: "Die Vereinten Nationen des Nick Clegg".
Das Medieninteresse an den Liberalen Demokraten ist neu. Bisher hatte man die Partei weitgehend ignoriert. Zu Beginn des Wahlkampfs war Cleggs Begleitbus halb leer, nun balgen sich die Journalisten um die Sitzplätze. Autos hupen, wenn ihnen das gelbe Fahrzeug begegnet, die Menschen wollen sich mit ihm fotografieren lassen, und Clegg hat jetzt drei Leibwächter statt wie bisher nur einen.
Im letzten Fernsehduell vor den Wahlen geht es am Donnerstag Abend um die Wirtschaft. Die Wähler trauen Cameron und Brown auf diesem Gebiet mehr zu als Clegg. So hofft Brown, dass sich Substanz gegen Präsentation durchsetzen werde. Wenn er sich da mal nicht gewaltig irrt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren