Nachruf: Im Niemandsland
Wolfgang Hilbig beschrieb die Tristesse in dem kleingeistigen Land DDR. Auch im Westen wurde er nie heimisch. Nun ist der Schriftsteller gestorben.
Im Niemandsland
Wolfgang Hilbig beschrieb die Tristesse in dem so kleingeistigen Land DDR. Auch im Westen, der ihn mit Literaturpreisen überschüttete, wurde er nie heimisch. Nun ist der Schriftsteller gestorben
VON SUSANNE MESSMER
Noch vor kurzem konnte man Wolfgang Hilbig manchmal in einer seltsamen Berliner Kneipe sichten. In der "MS Völkerfreundschaft", benannt nach einem großen Urlauberschiff der DDR, gehen sonst eher Touristen und vollfinanzierte Studenten aus Schwaben trinken. Die Umgebung der Gaststätte ist längst schick geworden; nichts erinnert mehr daran, dass sich hier einmal das Epizentrum der Prenzlauer-Berg-Connection befand, eine Revolte der Lebensstile, die die aufmüpfigste Literatur der DDR hervorgebracht hat. Diese Kneipe ist ein Denkmal, das ins Leere läuft, ein Ort, der weder in die Gegenwart passt noch zurückkann in die Vergangenheit. Sie war ein guter Ort für einen Ortlosen wie Wolfgang Hilbig.
Da saß er also hin und wieder, dieser kleine Mann mit dem mächtigen Oberkörper, mit der weißen Mähne eines Löwen und dem zerdepperten Gesicht eines Boxers, und niemand, wirklich niemand, sprach ihn je an. Obwohl er gerade vom Literaturbetrieb gefeiert wurde, obwohl er nach vielen anderen nun auch noch dem Georg-Büchner-Preis abgeräumt hatte, den bestdotierten Preis der Republik: Es war, als würde sich niemand trauen, ihm auch nur in die Augen zu sehen. Man spürte seinen Furor, den Ernst, mit dem er das freie, einsame und unruhige Dichterleben lebte, das Schreiben mit all seinen Gefahren und Blockaden, seiner Herkunft aus Schmerz, Mangel und Arbeit. Wolfgang Hilbig wirkte in dieser Kneipe verloren und fehl am Platz.
Wolfgang Hilbig war ein Heimatloser. Geboren 1941, wuchs er bei seinem Großvater auf, einem Analphabeten, Waise und Bergmann - und das in der hässlichsten Landschaft der Welt, in Meuselwitz, einem giftigen, apokalyptisch aufgerissenen Braunkohlenrevier südlich von Leipzig. Diese Gegend hat sich in die Lyrik und Prosa des Wolfgang Hilbig geschaufelt, der selten Schönes fand, wenn er begann zu graben. Und nicht nur diese: Nach acht Jahren Schule arbeitete er als Bohrwerkdreher, Tiefbauarbeiter, Werkzeugmacher, Heizer und Abräumer in einer Ausflugsgaststätte. Währenddessen las er im Kesselhaus Becket, Proust, Tieck und Chamisso und begann bald nach der Schicht "im allerfinstersten Winkel der Küche" oder "auf der Bettkante", wie er sagte, zu schreiben. Die DDR hatte ihren ersten schreibenden Arbeiter - zehn Jahre nachdem die Machthaber ihre Autoren in die Betriebe gebeten hatten, nachdem sie von ihren Arbeitern verlangten, zur Feder zu greifen, und auf diese Art Container voller Literatur entstanden waren, die man heute getrost unter dem Stichwort Geschichte abheften kann.
Es war nur eine Frage der Zeit, dass Wolfgang Hilbig, dieser Charles Bukowski des Ostens, im Westen entdeckt werden musste. Er stieß dort auf eine Liebe, der er naturgemäß wenig Gegenliebe entgegenbringen konnte. 1978 erschien sein erster Gedichtband im Fischer Verlag, Lyrik über die provinzielle Tristesse in einem ebenso kleinen wie kleingeistigen Land. Der DDR blieb nur, sich ein weiteres der immer mehr werdenden Probleme vom Hals zu schaffen. Wolfgang Hilbig durfte ausreisen. Fortan war der Autor nicht mehr zerrissen zwischen Werkbank und Schreibtisch, er wurde ein Reisender zwischen zwei schlechten Alternativen: im Osten voller Hoffnung auf die große Freiheit, im Westen voller Sehnsucht nach dem Osten. Weder hierhin gehörte er noch dorthin, er wollte nicht vorwärts in die schöne, neue Konsumwelt der Funktionalität und Fröhlichtuerei und auch nicht rückwärts in die DDR, die trotz allem der Unterdrückungsstaat blieb, der ihm das Leben gestohlen hatte. Noch bevor Hilbig diese abgrundtiefe Obdachlosigkeit beschreiben konnte, ein Alter Ego fand, das sich nur im Suff, an Bahnhofsimbissen und in Sexkinos heimisch fühlte, noch bevor 2002 sein dritter und letzter Roman "Das Provisorium" erschien, da redete man jahrelang über Hilbigs besten Roman "Ich", der 1993 erschien.
"Ich" erzählt vom ersten Verlust der DDR vor Wolfgang Hilbigs Ausreise, dem zweiten Verlust. Es geht um den Untergang der DDR von innen her, um einen Mann, der Dichter werden will, sich in den Fängen der Stasi verstrickt und dann in den feuchten und dunklen Kellern und Katakomben Berlins zu retten versucht - die Unterwelt als wiederkehrendes Motiv. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum geraten ins Schwimmen, kein Wunder in einem Land, wo jeder jeden observierte, wo am Ende nur noch Text blieb, der Text erzeugt. Für "Ich" hat Wolfgang Hilbig sein Schreiben ins Radikalste getrieben: Es ist zerrissen, asynchron, multiperspektivisch, voller wuchernder, archaischer und bizarrer Paraphrasenschübe, Genitivketten, Metaphernfluten. Und dennoch bleibt immer diese Kraft bestimmend, die unbarmherzig präzise Beschreibung von kaputter Körperlichkeit, von Alkohol und kaltem Schweiß, vom sauren Geruch des Erbrochenen, vom Qualm der nachlässig ausgedrückten Kippen.
Heute, wo Literatur oft nur noch ein Spielfeld unter vielen ist, wirkt sie erschreckend unzeitgemäß, diese Sprachwut. Wolfgang Hilbig ist mit seiner romantischen Verzweiflung, seiner Rückhaltlosigkeit ein Außenseiter geblieben, ein Grenzgänger im Niemandsland, und das auch noch in letzter Zeit, als die DDR restlos verschwunden war und der Literaturbetrieb ihn nicht mehr aufhören wollte zu rühmen. Der Schriftsteller Ingo Schulze hat kürzlich in einer Laudatio geschildert, wie sich Wolfgang Hilbig aus der Unterhaltung schlich und Ingo Schulze ihn nur noch den Hügel hinabgehen sah, mit seinen "breiten Schultern", dem "Stiernacken" und dem "schweren, zottigen Kopf". Es wäre schön, wenn es Wolfgang Hilbig wirklich geschafft hätte, auf die andere Seite des Baches, dorthin, "wo die Minotauren weiden". Vielleicht hätte der Ortlose dort endlich einen Ort. Am Samstag ist er im Alter von 65 Jahren an einem Krebsleiden gestorben.
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