Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller: "Da habe ich an Suizid gedacht"
Am Donnerstag wird Herta Müller der Literaturnobelpreis in Stockholm überreicht. Im Interview spricht sie über die Grundlagen ihres Schreibens.
taz: Frau Müller, in Ihrem letzten Roman "Atemschaukel" haben Sie das Leben in sowjetischen Lagern beschrieben, in die Deutsche aus Rumänien Anfang 1945 deportiert wurden. Die Deportationen fanden im Januar 1945 statt, als der Krieg noch nicht zu Ende war.
Herta Müller: Noch während des Krieges. Das war die Absurdität. Im Namen der Kollektivschuld der Deutschen hat man für den Wiederaufbau Zivilisten genommen. Die anderen waren noch gar nicht aus dem Krieg zurück. Meine Mutter hatte sich zuerst in einem Erdloch versteckt, aber dann hat es geschneit. Meine Großmutter konnte ihr nicht mehr das Essen bringen, weil man die Fußstapfen im Schnee erkennen konnte.
Ausgerechnet die Soldaten, die im Krieg waren, wurden nicht deportiert, sondern die Daheimgebliebenen. Schon in ihrem ersten Buch, in "Niederungen", beschreiben Sie Ihren Vater als SS-Mann.
Mein Vater war bei der SS, aber er kam erst viel später aus dem Krieg zurück. Meine Mutter hatte einen Verlobten, der ist im Krieg gefallen. Mein Vater hatte eine Freundin, die ist in Russland gestorben. Im Lager. Den beiden waren die eigentlichen Partner abhandengekommen. Um das Leben wieder in Gang zu bringen, hat man sein Leben arrangiert. Der Ehe meiner Eltern hat man das immer angesehen: Es war nicht die erste Wahl.
In der Kritik wurde Ihnen vorgeworfen, Sie würden das Lager poetisch überhöhen. Sie hätten das nicht selbst erlebt. Gulag-Romane ließen sich nicht aus zweiter Hand schreiben. Wie stehen Sie dazu?
Jede Literatur ist aus zweiter Hand. Jede Fiktion ist aus zweiter Hand. Auch ein Ich-Protagonist in einem Roman erzählt immer aus zweiter Hand. Das ist eine Konstruktion. Es muss ja so sein. Bei keinem anderen Thema würde man auf den Gedanken kommen, so etwas vorzuwerfen. Hier meint man, man muss irgendetwas hüten. Man will die Erinnerung an das Verbrechen des Holocaust, des Lagers hüten. Ich weiß nicht, vor wem. Wenn wir etwas lernen sollen aus den Verbrechen, dann doch, dass man trauert. Und wie soll man trauern ohne Gefühle? Für mich wird es Ideologie, wenn man vorschreibt, wie über das Lager zu schreiben ist. Es geht da um das Dürfen. Für mich bestehen diese Einwände in außerliterarischen Kriterien.
Begriffe wie Authentizität und Glaubwürdigkeit sind außerliterarische Kategorien für Sie?
Nein. Ich glaube, dass die Umwandlung des Gelebten in Sprache die entscheidende Rolle spielt. Wenn Georges-Arthur Goldschmidt von Autofiktionalität spricht, dann ist es ja immer eine Fiktion, die ins Erlebte eingreift und die Erinnerung einfärbt. Ohne Fiktion kann man keine Literatur schreiben. Selbst wenn ich etwas beschreibe, was ich selbst erlebt habe. Die Menschen, die im Lager waren, waren doch Individuen und keine Repräsentanten. Diese Vorstellung, die diese Art von Kritik hier hatte, wünscht sich eine kategorisierte Literatur, eine Schubladen- und Repräsentantenliteratur. So hat Lagerliteratur auszusehen. Und alles andere will man nicht zulassen. Man fürchtet sich vor dem Andersartigen. Man fürchtet, dass Dinge passieren könnten, auf die man nicht gefasst ist.
Schon Paul Celan hat man vorgeworfen, er würde pathetisch reden, einmal sogar, er würde reden wie Goebbels. Kann man das Pathos nicht ertragen in der deutschen Literatur der Nachkriegszeit? Darf man nur sachlich darüber schreiben?
Ich glaube, es gibt Menschen, die sich nicht vorstellen können, wie man eine Grenzsituation erlebt, wie man in der Verzweiflung mit sich selbst spricht. Das wird bei manchen Menschen ein ausgedorrter Blick auf das Leben. Wir sagen Trauma, wir sagen Beschädigung. Kann man das ohne Gefühle aushalten?
Jorge Semprun sagt, die Wahrheit der Erinnerung muss erfunden werden.
Erinnerung ist etwas Nachgemachtes.
Jorge Semprun hat in seinem Roman "Was für ein schöner Sonntag" über Buchenwald beschrieben, wie wichtig es für die Lagerinsassen war, über Bücher zu reden. Auch Ihr Protagonist Leopold Auberg hat im Lager drei Autoren dabei, Nietzsche, Weinheber und Rilke, liest sie aber kaum. Für ihn wird die Lagerarbeit selbst zum Kunstwerk. Das klingt nach Nietzsche, die Welt ist nur als Kunstwerk zu ertragen.
Das hat erst einmal eine ironische Bedeutung. Wenn Leo Auberg sagt: "Jede Schicht ist ein Kunstwerk", dann sagt er das aus Trotz, auch aus Stolz, auch aus Würde, die er sich bewahrt hat. Der Hunger konstituiert auch ein makabres Kunstwerk, eine Kunstwelt, weil einem im Kopf etwas einfallen muss, damit man das, was man mit den Augen sieht und mit den Füßen betritt, ertragen kann. Diese Kunstwelt hat mit unserem Verständnis von Kunst nichts zu tun. Es ist vielleicht Überlebenskunst, das ist vielleicht die härteste Kunst und die authentischste, die es gibt.
Eine "Ästhetik des Widerstands" könnte man das mit Peter Weiss nennen?
Einen Schutz der Verzweiflung. Beim Widerstand müsste etwas nach außen hin passieren. Das war undenkbar. Ein innerer Widerstand, ja.
Ihr Protagonist kommt 1949 aus dem Lager zurück nach Rumänien und stößt dort auf taube Ohren. Sie sind 1953 in Nitzkydorf geboren. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Das war Stalinismus. Da konnte man wegen jeder Kleinigkeit ins Arbeitslager kommen. Es gab die Arbeit am Donaukanal. Da sind die Leute hingekommen, und die meisten nie wieder zurück. Und die, die zurückkamen, waren für immer zerstört und verstört. Man hatte Angst. Die Leute, die im Lager waren, waren durch die Angst dressiert. Man kommt in eine Gesellschaft zurück, die einem Lager ähnelt. Die Drohungen gehen weiter, es wurde höchstens summarisch darüber gesprochen. Meine Mutter hat hie und da, wenn man gefroren hat, wenn man nicht essen wollte, gesagt, der Durst ist wilder als der Hunger. Oder der Wind tut mehr weh als der Schnee. Das waren ihre Lagererfahrungen. Aus Grenzerfahrungen wissen wir, da bleibt etwas zurück. Ich habe immer gedacht, meine Mutter ist verstört. Mit dem Älterwerden habe ich verstanden, es waren Folgen des Lagers: die Ungeduld beim Essen, sich nicht hinsetzen können, die Eile und die Gier, dass das Essen nur eine Sache des Sattwerdens ist. Es darf keinen Geschmack haben. Es darf kein Ritual der Beziehungen werden, auch nicht in der Familie.
Es gibt ja auch das Trauma der zweiten Generation, das Trauma wird weitergetragen von den Nachkommen der Opfer.
Als ich im Februar 1987 mit meiner Mutter ausgewandert bin, konnten wir das Gepäck mit einem Traktor auf eine Grenzstation bringen. 60 Kilogramm durfte man haben. Wir sind in der Nacht gefahren. Meine Mutter hat damals gesagt, in unsere Familie kommt das Schicksal immer im Winter. Für sie war die Vorstellung von der Deportation wieder präsent, im Winter, in der Nacht, auf einem offenen Traktoranhänger. Obwohl das eine mit dem anderen nichts zu tun hatte. So funktioniert Beschädigung. Dass es dich unerwartet überrollt, dass du dem Moment nie gewachsen bist, das ist das Hebelgesetz der Erinnerung.
Die Erziehung im Lager besteht in der Erzeugung von Angst. In Ihren früheren Werken war die Angst in der Kindheit ein zentrales Motiv. Das System von Ceausescus Securitate hat diese Angst aus der Kindheit fortgesetzt: Als Metapher verwendeten Sie dafür den Frosch. Und dann haben Sie geschrieben: "Man nimmt den Frosch mit nach Deutschland." Die Angst ist also nicht überwunden.
Wenn man 30 Jahre in diesem System gelebt hat, ist das selbstverständlich. Zuerst 15 Jahre in diesem Dorf, mit seinen strikten, versteinerten, ungeschriebenen Gesetzen, mit einem ethnozentristischen Selbstverständnis als Deutsche - die anderen waren immer die Schlechteren -, in einer Gegend, wo jeder alles über jeden wusste. Man sah alles. Als ich in die Stadt nach Temeschwar kam, habe ich die Überwachung durch den Geheimdienst Securitate oder die Polizei als Fortführung der dörflichen Erfahrungen empfunden. Natürlich gibt es einen großen Unterschied. Im Dorf hat keiner dem anderen nach dem Leben getrachtet. Politische Repression ist etwas anderes als die Überschaubarkeit in einem dörflichen Milieu. Aber ich hatte trotzdem den Eindruck, ich bin durch die Kindheitsjahre an etwas gewöhnt worden. Ich konnte deshalb als Staatsfeind im Visier des Geheimdienstes dieser Sache innerlich vielleicht besser begegnen.
Sie haben daraus den Schluss gezogen: Ich lasse mich nicht verrückt machen. Sie haben diese Angstzustände auch als Anreiz zum Selbstmord beschrieben, dann aber gesagt: Diese Drecksarbeit sollen die selber machen.
Das wird schon absurd, wenn man mit dem Tod bedroht wird, wenn ein Mitarbeiter der Securitate dir sagt, wir ertränken dich im Fluss, oder wer sich sauber anzieht, kann nicht dreckig in den Himmel kommen. Man hält das tägliche Gezerre nicht mehr aus. In deiner Abwesenheit verändern sie Gegenstände in deiner Wohnung. Du hast absolut keine Privatheit. Man hat Angst, das Essen ist vergiftet. Da entsteht eine Unsicherheit, die dir jede Selbstverständlichkeit nimmt. Ich habe mir irgendwann gewünscht, nicht mehr zu leben. Ich wollte nicht sterben, aber ich wusste, ich kann so nicht leben. Da habe ich an Suizid gedacht. Aber dann hätte ich genau das gemacht, wozu sie mich treiben wollten. Und wenn sie mir damit drohen, dann sollen sie diese Drecksarbeit selber machen. Es entsteht ein Teufelskreis.
Aus dem man aber wieder herauskommt, indem man sagt, ich lasse mich nicht verrückt machen?
Aber es gibt Momente, wo man nicht mehr weiß, ob man nicht schon verrückt ist. Ich war nicht mehr weit davon entfernt. Als ich aus Rumänien nach Deutschland kam, konnte ich das Lachen vom Weinen nicht mehr unterscheiden. Meine Freunde und ich, wir konnten es uns nicht leisten, zu einem Psychiater zu gehen. Da hätten wir uns direkt in die Hände des Geheimdienstes begeben.
Gibt es eine Zuflucht in der Literatur? Kann Literatur die Angst bewältigen helfen?
Ich kann nur für mich sprechen. Ich hatte immer meine Gedichte, die ich mir aufsagen konnte. Sogar beim Verhör. Es ist wie das Singen im Lager. Das wird nicht schal. Man kann sich auf gegebene Formen verlassen, sich anlehnen. Es ist eine Art, ich habe das öfter gedacht, es ist eine Art zu beten, für Leute, die nicht an Gott glauben. Und es ist eine schönere Art als das Beten. Es verlangt mehr Individualität als das Beten. Es ist nicht so mechanisch. Bis heute schreibe ich mir Sätze aus Büchern heraus, die mir Halt geben. Die Angst ist eine gute Ästhetikkennerin. Die Angst kann man nur mit literarisch starken Texten bändigen. Flache oder klischeehafte Texte können das nicht leisten.
Es handelt sich bei unserem Interview um Auszüge aus einem Radiogespräch, das erstmals am 9. 10. 2009 in der Sendung "Doppelkopf" (hr2-Kultur) gesendet wurde. Alle Rechte der Texte von Herta Müller: © Herta Müller 2009/Carl Hanser Verlag München
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren