Debatte EU-Vertrag: Eine Gefahr für die Bürgerrechte
Der EU-Vertrag von Lissabon ist unsozial und undemokratisch. Deshalb sollten die Iren ihn ablehnen. Sie sind die einzigen EU-Europäer, die das per Referendum tun können.
Die Regierungen Europas zittern mal wieder vor den Iren. Heute entscheiden die 4 Millionen Einwohner der Insel am Rande Europas per Referendum über den EU-Vertrag von Lissabon. Irland ist das einzige EU-Land, in dem ein Volksentscheid abgehalten wird. Die restlichen 450 Millionen EU-Europäer dürfen nicht abstimmen.
Der Vertrag von Lissabon, das geben auch seine Befürworter zu, ist zu 95 Prozent identisch mit der EU-Verfassung. Die aber wurde vor drei Jahren von den Franzosen und Niederländern in Referenden abgelehnt. Deshalb gingen nun die Regierungen in Paris und Den Haag auf Nummer Sicher und verweigerten den Wählern das Votum. Das alleine wäre schon Grund genug, den Vertrag von Lissabon abzulehnen. Aber es gibt noch andere Gründe. Der Vertrag ist keineswegs eine "Aufräumübung", um verschiedene Punkte aus den alten EU-Verträgen unter einen Hut zu bringen - was uns seine Befürworter weismachen wollen.
Der Vertrag von Lissabon geht viel weiter. So wird die Militarisierung der EU vorangetrieben, die Mitgliedsländer müssen ihren Rüstungshaushalt erhöhen. Nach Artikel 28 kann die EU "Drittländern beim Kampf gegen den Terrorismus in ihrem Staatsgebiet" zu Hilfe kommen - und zwar ohne ein UN-Mandat. Es ist dieselbe Begründung, die für die Invasion in Afghanistan angeführt wurde. Es wäre naiv zu glauben, dass sich die erweiterte militärische Dimension der EU auf friedensstiftende und humanitäre Aufgaben beschränken wird.
Außenpolitische Experten der EU haben in einem Papier erklärt, dass der Klimawandel nicht nur ein Umweltthema sei, sondern auch ein "erhebliches Sicherheitsrisiko" darstelle. Die Wasserversorgung in Israel könnte in diesem Jahrhundert um 60 Prozent zurückgehen, schreiben Javier Solana und Benita Ferrero-Waldner in ihrem Bericht, Missernten im Nahen Osten und in der Türkei führen dann zu noch mehr Instabilität in der Region. Die Kriege um Zugang zu Wasser, so heißt es in dem Bericht, bedrohen auch die Energiesicherheit der EU. Der Vertrag von Lissabon bevollmächtigt die EU zu militärischen Einsätzen, um die eigenen Interessen zu schützen.
Die französische Regierung hat ihr Weißbuch über Verteidigung und Sicherheit, das die Strategie für die kommenden 15 Jahre festlegt, bisher zurückgehalten, obwohl es längst fertig in der Schublade liegt. Die irische Regierung hatte gebeten, es erst nach dem irischen Referendum zu veröffentlichen, weil sie befürchtet, dass die darin enthaltenen Punkte über die Erweiterung der EU-Verteidigungspolitik den Gegnern des Lissabon-Vertrags Auftrieb geben würden. Dem Vertrag ist außerdem in letzter Minute ein bindendes Protokoll beigefügt worden, das überhaupt nicht debattiert worden ist. Demnach sollen die "notwendigen Bedingungen für das zügige Wachstum der Atomindustrie geschaffen" und "die Investitionen für die Entwicklung von Atomenergie gefördert" werden.
Und was ist mit dem Argument der Ja-Seite, dass der Vertrag zum ersten Mal die Grundrechte der EU-Bürger festschreibe? Es ist schlichtweg falsch. Der Vertrag von Lissabon fasst lediglich bereits bestehende Rechte zusammen. Der Europäische Gerichtshof ist seit dem "Stauder-Urteil" 1969 an den Schutz der Grundrechte gebunden. Das Europäische Parlament hat sich in der Richtlinie 34 auf die Einhaltung der Grundrechts-Charta bei legislativen Entscheidungen festgelegt. Und auch die Europäische Kommission hat im Jahr 2000 erklärt, dass sie sich an die Charta gebunden fühle. Die Aufnahme der Charta in den Lissabonner Vertrag hat nicht mehr als symbolische Bedeutung - sie soll Demokratie vorgaukeln.
Artikel 16 des Vertrags von Lissabon sieht vor, dass Privatunternehmen sich um Dienstleistungen bewerben können, die bisher vom Staat angeboten werden. In vielen Bereichen ist das bereits so - mit fatalen Folgen, wie die Privatisierung von Eisenbahn und Wasser in Großbritannien gezeigt hat. Für Gesundheit und Bildung wären die Folgen noch verheerender, wenn sich die Privatwirtschaft die lukrativen Bereiche herauspickt, während weniger profitable Bereiche vom Staat kaum noch finanziert werden können.
Aus Patienten und Schülern werden dann Kunden. Und die betuchte Kundschaft wird stets zuvorkommender bedient. Darüber hinaus verliert Irland in 5 von 15 Jahren seinen EU-Kommissar. Das gilt zwar auch für die anderen Länder, aber für die kleineren Mitgliedsstaaten ist der Verlust dieser wichtigen Einflussmöglichkeit ungleich größer. Der irische Stimmanteil im Europarat schrumpft gleichzeitig von 2 auf 0,85 Prozent, während sich Deutschlands Stimmanteil verdoppelt.
Für die Iren steht noch mehr auf dem Spiel. Der Wirtschaftsboom der vergangenen 15 Jahre, der nun allerdings zu Ende geht, basierte auf der niedrigen Körperschaftsteuer von anfangs 10, heute 12,5 Prozent. Die neoliberale Lobby meint, dass der Markt die Ungleichheit und die sozialen Probleme schon regeln werde. Die irische Erfahrung lehrt, dass das nicht so ist, die Schere zwischen Armen und Reichen ist im Zuge des Booms weitaus größer geworden.
Die irische Regierung beruhigt die Unternehmen mit der Versicherung, dass nach Artikel 113 des Vertrags von Lissabon die Harmonisierung der indirekten Steuern geregelt wird, die direkten Steuern davon aber nicht berührt werden, denn dafür sei Einstimmigkeit nötig. Und die gibt es auf absehbare Zeit nicht. In diesem Fall aber wird der Konkurrenzkampf dafür sorgen, dass die Körperschaftsteuer angepasst wird - nach unten. Welche sozialen Folgen das haben wird, bleibt im Lissabon-Vertrag außen vor.
Einer der undemokratischsten Punkte ist Artikel 48. Er verleiht der EU das Recht, ihre eigenen Verträge zu modifizieren und zu ergänzen, ohne von der Regierungskonferenz dazu bevollmächtigt worden zu sein. Dadurch könnte die EU künftige Schwierigkeiten mit Irlands lästiger Verfassung vermeiden, die nun mal Volksentscheide vorschreibt. Was aber geschieht, wenn die Iren den Vertrag ablehnen? Am 20. Februar dieses Jahres wurde über eine Resolution im Europäischen Parlament abgestimmt, die besagte, dass man "das Ergebnis des Referendums in Irland respektieren" werde. Diese Resolution wurde mit 499 gegen 129 Stimmen bei 33 Enthaltungen abgelehnt.
Es wird das Gleiche wie vor sieben Jahren passieren, als Irland gegen den Vertrag von Nizza stimmte. Man machte damals ein paar minimale Zugeständnisse und schickte die Iren wieder an die Wahlurne. Dieser Plan B liegt auch diesmal schon bereit, wie Pierre Lequiller, der französische Delegationsvorsitzende für die EU, Mitte Mai erklärte.
Es wäre zu wünschen, dass die Iren dann erneut Nein sagen. Solchen Institutionen, die sich die Demokratie nur dann auf die Fahnen schreiben, wenn alles nach ihrem Willen abläuft, darf keinesfalls noch mehr Macht zugeschanzt werden.
RALF SOTSCHECK
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